Das deutsche Grundgesetz wird an diesem Donnerstag 70 Jahre alt. Es wurde im Auftrag der drei westlichen Satzungsmächte vom Parlamentarischen Rat in Bonn erarbeitet und am 23. Mai 1949 erlassen. Das Gesetz wurde mit Absicht nicht "Verfassung" genannt, damit es seinen provisorischen Charakter behält. Zur Geschichte dieses Provisoriums und zur aktuellen Debatte um das Grundgesetz finden Sie hier Interviews, Reportagen, Hintergründe und Fakten.
Ende der 40er Jahre ist Bonn heißer Kandidat, Hauptstadt der Bundesrepublik zu werden - und jener Ort, an dem vor 70 Jahren unser heutiges Grundgesetz verhandelt wurde. Die Bonnerin Gertrud Krüskemper kann sich an diese Zeit sehr genau erinnern. Ann-Kathrin Stracke vom Westdeutschen Rundfunk hat mit ihr gesprochen.
Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz erlassen. Eigentlich sollte das Gesetz nur ein Provisorium sein, doch es hat sich bis heute gehalten. Gertrude Lübbe-Wolf, Jura-Professorin an der Universität Bielefeld und ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht, blickt mit uns auf die Entwicklung des Grundgesetzes zurück.
Vor 70 Jahren ist das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verkündet worden. Und das wird mit einer ganzen Reihe von Veranstaltungen gefeiert. Am Mittwochabend geschah das mit dem Karlsruher Verfassungsgespräch. Hinterfragt wurde dabei, ob Deutschland in guter Verfassung sei. Insgesamt schon, fand Bundespräsident Steinmeier. Aber er hatte auch kritische Einwände, wie Reporter Bernd Wolf berichtet.
Fragen und Antworten
Warum das Grundgesetz Grundgesetz heißt
Nach dem Zusammenbruch aller demokratischen Regeln in Deutschland gab es nach dem Weltkrieg eine neue Chance. Der Mensch - nicht der Staat - sollte mit der neuen Verfassung in den Vordergrund rücken. In Deutschland steht über allen anderen Vorschriften das Grundgesetz - seit 1949 bestimmt es, wie Bürger und Staat zueinander stehen.
(Quelle: dpa)
Was hat es mit dem Namen auf sich?
In Deutschland heißt die Verfassung "Grundgesetz". Mit dem Namen wollten die Politiker in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands das Augenmerk darauf richten, dass die darin festgelegten Regeln angesichts der faktischen Teilung des Landes nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur vorläufig gelten sollten. Laut Präambel wollten sie "dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung" geben.
Wo wurde das Grundgesetz erdacht?
Nach dem Auftrag der westlichen Besatzungsmächte - erteilt in den "Londoner Empfehlungen" am 1. Juli 1948 - machten sich die Deutschen an die Ausarbeitung der Grundlagen für den Weststaat. Im August ging es auf der Insel Herrenchiemsee an die praktische Arbeit. Nach nur zwei Wochen legten die Sachverständigen - 33 Rechtsgelehrte, Politiker und Verwaltungsfachleute - ihren "Entwurf eines Grundgesetzes" mit 149 Artikeln vor. Auf dieser Grundlage setzte ab September 1948 der "Parlamentarische Rat" in Bonn die Arbeit fort.
Was sind die wichtigsten Inhalte?
Das am 8. Mai 1949 beschlossene und von den Alliierten genehmigte Grundgesetz setzte sich aus einer Präambel mit dem Aufruf zur Vereinigung der Deutschen, den Grundrechten mit der Beschreibung der Stellung der Bürger gegenüber staatlicher Gewalt sowie einem organisatorischen Teil zusammen, der die politische Verfassung des neuen Staates festlegte.
Welche Grundrechte wurden festgeschrieben?
Im ersten Teil des Grundgesetzes wurden die unabänderlichen Rechte der
Bürger festgehalten. Um ihre Bedeutung zu betonen und sich auch von den
Einschränkungen der Nazi-Zeit abzugrenzen, wurden die Freiheits- und
Gleichheitsrechte bewusst an den Anfang der Verfassung gestellt. Dazu
gehören der Schutz der Menschenwürde, das Recht auf körperliche
Unversehrtheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Freiheit
des Glaubens, die Meinungsfreiheit sowie der Schutz von Ehe und Familie.
Auch der Schutz der eigenen Wohnung und das Asylrecht sind hier
festgehalten.
Wie wurde der Staat organisiert?
Das «Staatsorganisationsrecht» beschreibt die wichtigsten Prinzipien, nach denen die Bundesrepublik Deutschland aufgebaut ist. So beschreibt Artikel 20 den Staat als Demokratie ("Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus") und sozialen Bundes- und Rechtsstaat ("die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden"). Diese Grundsätze sind unveränderbar. Im Grundgesetz beschriebene Staatsorgane sind unter anderem der Bundestag, die Bundesregierung und das Bundesverfassungsgericht.
Welche Lehren wurden aus der Vergangenheit gezogen?
Experten streiten darüber, ob das Grundgesetz auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung konzipiert wurde oder im ausdrücklichen Gegensatz zu ihr. Auf jeden Fall gibt es deutliche Unterschiede, etwa bei der Stellung des Präsidenten: Die Position des Staatsoberhauptes wurde nach 1949 deutlich geschwächt, dafür aber die politische Macht des Bundestags und des dort gewählten Bundeskanzlers wesentlich gestärkt. Die Einführung des "konstruktiven Misstrauensvotums" stellte sicher, dass ein Regierungschef nur dann gestürzt werden kann, wenn zugleich ein neuer Kanzler gewählt wird. Ebenfalls neu war die umfassende Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. Und: Die Todesstrafe wurde abgeschafft.
Was hat sich in den vergangenen 70 Jahren geändert?
Vor allem hat das Grundgesetz seinen provisorischen Charakter verloren: Seit der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 gilt es als Verfassung für "das gesamte deutsche Volk". Aber schon früh gab es wichtige Eingriffe, die jeweils eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderten. So wurde 1953 die Fünf-Prozent-Klausel im Wahlrecht und 1956 die Einführung von Bundeswehr und Wehrpflicht beschlossen, 1968 die ebenfalls heftig umkämpften Notstandsgesetze eingefügt. Seit 1992 schreibt der Artikel 23 die "Verwirklichung eines vereinten Europas" vor.
Welche Kerne der Verfassung dürfen nicht verändert werden?
Im Artikel 79 des Grundgesetzes wurde festgelegt, dass eine Änderung, durch welche «die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden», nicht zulässig sei. Dies gilt als "Ewigkeitsklausel", die die Grundrechte der Bürger und die föderale Ordnung der Bundesrepublik festschreibt.
Und was galt in der DDR?
Am 30. Mai, nur eine Woche nach Verkündung des Grundgesetzes, verabschiedete ein Volkskongress in der sowjetischen Besatzungszone den Verfassungsentwurf für die Deutsche Demokratische Republik. Mit ihrem Inkrafttreten am 7. Oktober 1949 entstand die DDR. Auch ihre Verfassung sah umfängliche Bürgerrechte vor - allerdings wurde auch jedem "das Recht und die Pflicht zur Mitgestaltung in seiner Gemeinde, seinem Kreise, seinem Lande und in der Deutschen Demokratischen Republik" auferlegt. Erst 1968 fand der Sozialismus Eingang in eine erneuerte Verfassung. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik endete dieses Kapitel deutscher Geschichte.
Fast jeder kennt Artikel 1 des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Doch was heißt das eigentlich genau - ist das klar genug formuliert? Wir wollten hören, was die Berlinerinnen und Berliner dazu sagen und haben dann noch nachgefragt beim Berliner Fachanwalt für Verwaltungsrecht Remo Klinger.
Die Bundesrepublik wird 70. Ein Rückblick auf Grundgesetz, Grundlagenvertrag und große Koalitionen.
(Quelle: dpa)
1949
Das Grundgesetz tritt in Kraft. Erste freie Wahlen, Konrad Adenauer (CDU) wird Kanzler. Aus der Sowjetischen Besatzungszone entsteht die DDR, Wilhelm Pieck wird dort Präsident.
1951
Das Bundesverfassungsgericht nimmt seine Arbeit auf.
1953
In der DDR kommt es angesichts der schlechten Versorgungslage am 17. Juni zum Volksaufstand, der blutig niedergeschlagen wird.
1954
Die westdeutsche Elf gewinnt die Fußball-Weltmeisterschaft. Das "Wunder von Bern" wird zum Symbol neuen Selbstbewusstseins.
1955
Die Bundesrepublik tritt der 1949 gegründeten Nato bei, die DDR dem Warschauer Pakt.
1957
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) entsteht, aus ihr geht später die Europäische Union hervor. Westdeutschland ist Gründungsmitglied.
1961
Um die Abwanderung zu stoppen, beginnt die DDR in der Nacht zum 13. August mit dem Bau der Mauer.
1963
Freundschaftsvertrag mit Frankreich. US-Präsident John F. Kennedy in Berlin. Ludwig Erhard (CDU) löst Adenauer als Kanzler ab.
1966
Angesichts wirtschaftlicher Probleme kommt es zur ersten großen Koalition. Kurt Georg Kiesinger (CDU) wird Kanzler.
1967
Bei einer Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs wird am 2. Juni der Berliner Student Benno Ohnesorg erschossen. Die Studentenbewegung radikalisiert sich.
1969
Willy Brandt (SPD) wird Kanzler einer SPD/FDP-Regierung und leitet seine neue Ostpolitik ein.
1971
Das Transitabkommen mit der DDR erleichtert Reisen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik. Erich Honecker wird Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED.
1972
Der Grundlagenvertrag mit der DDR soll die Beziehungen beider Teilstaaten verbessern. Ein palästinensischer Überfall auf die israelische Olympia-Mannschaft in München endet in einem Blutbad.
1973
Aufnahme beider deutscher Staaten in die Uno, damit völkerrechtliche Anerkennung für die DDR.
1974
Brandt tritt wegen der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume zurück, Nachfolger wird Helmut Schmidt (SPD). Bei der Fußball-WM erzielt Jürgen Sparwasser im deutsch-deutschen Prestigeduell das Siegtor für die DDR.
1977
"Deutscher Herbst": Die Entführung und Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer durch die Rote Armee Fraktion wird zur Herausforderung der politischen Ordnung.
1978
DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn ist der erste Deutsche im Weltall.
1982
Helmut Kohl (CDU) wird durch ein Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt Bundeskanzler einer schwarz-gelben Koalition. Er bleibt 16 Jahre im Amt.
1983
Die 1980 gegründeten Grünen kommen erstmals in den Bundestag.
1985
In Hessen kommt es zur ersten rot-grünen Koalition. Joschka Fischer wird erster grüner Minister.
1989
In Berlin fällt die Mauer. Zuvor flüchten viele DDR-Bürger über Österreich/Ungarn in den Westen, im August besetzen Tausende die deutsche Botschaft in Prag. Egon Krenz löst Honecker ab.
1990
Am 3. Oktober ist Deutschland wiedervereinigt. Erste gesamtdeutsche Bundestagswahl. Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), Nachfolgerin der SED, zieht in den Bundestag ein. Aus ihr wird später die Linkspartei.
1991
Der Bundestag in Bonn spricht sich für Berlin als künftigen Sitz von Parlament und Regierung aus. In Hoyerswerda beginnt eine Serie von fremdenfeindlichen Gewalttaten. Sie gipfeln in tödlichen Anschlägen in Mölln (1992) und Solingen (1993).
1998
Nach der Bundestagswahl wird Gerhard Schröder (SPD) für sieben Jahre Kanzler einer rot-grünen Regierung.
2002
Der Euro löst die D-Mark als Zahlungsmittel ab. Beginn des Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan.
2003
Schröder verkündet die "Agenda 2010" mit weitreichenden Änderungen von Sozialsystem und Arbeitsmarkt.
2005
Mit Joseph Ratzinger wird erstmals seit rund 480 Jahren wieder ein Deutscher Papst. An der Spitze einer großen Koalition wird Angela Merkel (CDU) erste deutsche Bundeskanzlerin.
2011
Nach der Atomkatastrophe von Fukushima besiegelt der Bundestag den Ausstieg aus der Kernkraft. Die rechtsextrem motivierte Mordserie des NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) kommt ans Licht. Die Bundeswehr wird eine Freiwilligenarmee.
2012
Der frühere DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck wird als Nachfolger von Christian Wulff zum neuen Bundespräsidenten gewählt.
2013
Mit Angela Merkel gewinnt die Union die Bundestagswahl klar. Es kommt zur dritten großen Koalition von Union und SPD.
2015
Kanzlerin Merkel nennt die Bewältigung des Flüchtlingsstroms eine "große nationale Aufgabe" und beteuert: "Wir schaffen das." Am 4. September dürfen Tausende Flüchtlinge nach Deutschland einreisen.
2016
Islamistischer Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. 12 Menschen kommen ums Leben.
2017
Bei der Bundestagswahl zieht die rechtsnationale AfD erstmals ins Parlament ein, CDU und SPD verlieren deutlich. Dennoch wird Angela Merkel zum vierten Mal Kanzlerin.