100 Sekunden Leben - Im Signal-Chat der Verkehrspolitik
Was hat Nachrichtenwert und was nicht? Kolumnistin Doris Anselm stellt sich diese Frage aktuell bei der Berichterstattung über den Neubau der Berliner Ringbahnbrücke.
Angeblich leben wir medial in einer Zeit des Clickbait: Die Inhalte, so heißt es, müssten immer krasser werden, damit noch jemand draufklickt. "Dreijähriger schlachtet Mutter, weil sie nicht gendern wollte und verkauft das Fleisch an Elon Musk!" So was in der Art. Für weniger Heftiges würde sich die öffentliche Aufmerksamkeit heutzutage nicht mehr regen.
Also mir kommt das anders vor. Seit zwei Wochen zerfleddert unsere Regionalpresse wie besessen das doch ziemlich unblutige und nicht sehr überraschende Thema, dass … in Berlin eine Brücke neu gebaut werden muss! Anfangs hatte ich noch Verständnis. Da fragte man, warum nicht längst was gemacht wurde bei der 60 Jahre alten Ringbahnbrücke, und zwar ohne plötzliche Vollsperrung. Und natürlich verweist die Sache auf das Systemproblem mit der kaputtgesparten Infrastruktur. Bitte. Das wären dann drei bissige Interviews, zwei Hintergrundstücke und fünf Kommentare. Fertig.
Aber von wegen! Inzwischen fühlt es sich an, als wären wir alle versehentlich in die Signal-Chatgruppe eingeladen worden, wo die Verkehrssenatorin grad vorschlägt, eine "Steuerungsgruppe" zu gründen, während die Autobahn-GmbH ihre Meinung zur Größe des Sperrkreises mitteilt und der Regierende drei Stoppuhr-Emojis postet, um zu sagen, dass es bitte schnell gehen soll.
Nichts davon muss ich wissen. Die Tatsache, DASS mich das alles interessieren soll, ist aber ganz für sich ein schlechtes Zeichen. Ich wage zu behaupten: Früher hätte es das Thema erst wieder in die Presse geschafft, falls nach 5 Jahren immer noch keine neue Brücke fertig wäre. Heute dagegen müssen wir offenbar allen Akteuren von Sekunde 1 an auf die Finger gucken, sonst wird det wieder nüscht. Juti, aber denn will ich jetzt BAFÖG für meine Ingenieurs-Fortbildung.