100 Sekunden Leben - Alles online auf Papier
Trägt sie eine Mitschuld am Terminmangel bei den Berliner Behörden? Unsere Kolumnistin Doris Anselm hört sich ungern Vorwürfe an – vor allem, wenn’s um Digitalisierung geht.
Seit ein paar Tagen fahre ich mit der Bahn immer an diesem riesigen bunten Plakat vorbei. "Wooow", steht da drauf (und zwar mit drei "O"). "Wooow. Geburtsurkunde online nachbestellen? Ja, ganz einfach. Nur abheften musst du sie noch selber. Online geht mehr als du denkst".
Aha. Eine Kampagne der Berliner Behörden. Ich gucke mich in der Bahn um – aber keiner lacht. Dabei ist das doch mal wieder typisch für alles, was Deutschland an der Digitalisierung nicht rafft. Da gibt es also dieses Blatt Papier, den Beweis einer menschlichen Existenz, den man (ich google ein bisschen) anscheinend immer noch vorlegen muss, wenn man heiraten will, Eltern- oder Kindergeld beantragen, teils auch für Pass oder Perso.
Jetzt könnten wir unsere gesamte Digitalisierungs-Task-Force-Manpower darauf richten, dieses Blatt Papier abzuschaffen, wie es etwa in Schweden längst passiert ist. Aber nein. Wir in Deutschland digitalisieren nicht das Blatt Papier, sondern den Vorgang, das Blatt bei Verlust nochmal(!) zu erhalten. Damit wir am Ende, und das Werbeplakat schämt sich nicht mal, es zu verkünden, wieder was zum Abheften haben. Das ist ungefähr so, als müsste man Briefe mit der Hand schreiben, fotografieren, die Bilddatei per Mail verschicken, damit der andere sie sich wieder ausdruckt. Warte mal, das war ja quasi die Idee des Faxgeräts.
Naja. Ich google weiter: Ach so! Die angepriesenen Online-Möglichkeiten sind gar nicht neu – die Bürger nutzen sie nur viel zu wenig. Und damit seien sie, also wir, Schuld am Terminmangel beim Amt, so die zarte Andeutung der Pressemeldung zur Kampagne. Nee, Leute. So lange Berliner Behörden auf ihren Internetseiten immer noch Faxnummern angeben, so lange überrascht es mich wenig, wenn die Bürger ihr Digitalisierungsglück noch nicht so richtig glauben.