Eine Reichsfalle und die Stars-and-Bars-Flagge der US-Südstaaten wehen vor einem Wohnhaus.
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100 Sekunden Leben - Bastelland ist nicht real

Nicht nur vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart wird gerade gegen Reichsbürger verhandelt. Auch der Verfassungsschutz warnt: In Brandenburg werden es immer mehr, die den Staat nicht anerkennen und sich in Fantasiestrukturen stürzen. Unser Kolumnist Sebastian Schiller fühlt sich da an seine Kindheit erinnert.

Jeder von uns träumt insgeheim von einer besseren Welt. Wobei dieses Besser schwer zu definieren ist. Weltfrieden, Gleichberechtigung, Kekse zum Frühstück für alle - die Vorstellungen gehen weit auseinander. Als ich noch ein Kind war, gab es im Garten meiner Eltern diesen Steinhaufen. Relativ große Betonsteine, Überbleibsel irgendeiner Baumaßnahme. Einzeln gerade so schwer, dass ich sie mit Mühe und Not anheben und neu platzieren konnte. Irgendwann Mitte der 90er habe ich einen ganzen Sommer damit verbracht, mir Stein um Stein eine kleine Burg zu bauen.

Zumindest in meiner Vorstellung, tatsächlich hat es gerade mal für eine Art Terrasse mit kleiner Sitzmöglichkeit und erschreckend niedrigen Mauern gereicht. Aber das war dann eben mein kleines Reich, Spielzimmer und Schmollecke zugleich. Hier war ich der Bestimmer. Bis die Steine irgendwann dann doch ihrer eigenen Bestimmung zugeführt wurden. Bastelland ist zwar nicht abgebrannt, weg war es trotzdem.

Der jüngste Reichsbürger im Ort

 

Heute muss ich an diese Geschichte denken, wenn ich davon höre, dass immer mehr Erwachsene Fantasiestaaten anhängen, eigene Reiche gründen und sich gegenseitig bunte Zettel ausstellen, Ausweise oder Reisepapiere. Genau so, wie ich es auf meiner kleinen Burg gemacht habe. Nur war ich damals acht Jahre alt. War ich damit womöglich der jüngste Reichsbürger im Ort? Sind Reichsbürger am Ende vielleicht auch nur bockige Kinder deren Burg stehen geblieben ist?

War ich in meiner Burg, konnte ich mich dem Mittagsschlaf entziehen oder musste mein Zimmer nicht aufräumen. Entschuldigung, aber als Regent hat man Wichtigeres zu tun. Die Nachahmer von heute wollen sich dem Finanzamt entziehen, dem Solidarsystem des Sozialstaates oder dem ethischen Regelwerk der Gesellschaft. Alles nur umständlich formulierte Umschreibungen dafür sich auf den Boden zu werfen und trotzig mit Armen und Beinen zu wackeln. Allerdings wäre ich nie auf die Idee gekommen von meiner Burg aus mit Waffengewalt das Haus meiner Eltern anzugreifen. Denn mein 8-jähriges Ich war da schon weiter: Bastelland war nicht real.

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Lupe mit Reichsbürger und Button mit Bundesadler
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