Interview - Fanforscher: Fußball braucht wieder mehr Glaubwürdigkeit
Vor dem EM-Start ist die Begeisterung noch überschaubar. Viele könnten sich mit der Nationalmannschaft nicht identifizieren, sagt Fanforscher Harald Lange - auch wegen der Kommerzialisierung des Fußballs.
Es habe derzeit Seltenheitswert, auf den Straßen mal eine Fahne zu sehen, sagt Harald Lange, Leiter der Fan- und Fußballforschung an der Universität Würzburg. "Und das unterscheidet diese EM ganz deutlich von diesem Sommermärchen 2006. Da waren die Straßen ja zugepflastert mit Bekenntnissen für die Nationalmannschaft - sowohl für die deutsche als auch für die anderen Nationalmannschaften."
Der Fanforscher erklärt sich das unter anderem damit, dass die Bindung zur Nationalelf in Deutschland stark von deren Erfolg abhänge. "Das Tragische ist in gewisser Weise: Erfolg wird in Deutschland so definiert, dass man mindestens ins Halbfinale kommen muss", erklärt er. "Eigentlich muss man solche Turniere sogar gewinnen. Dann binden sich die Fans, dann pilgern sie ins Stadion." Das sei in anderen Ländern ganz anders.
Lange: "Bierhoffisierung" der Nationalmannschaft
Dabei gehe es aber nicht unbedingt um das Thema Nationalstolz, betont Lange. "Es ist einfach so, dass wir mit dieser Nationalmannschaft weniger anfangen können als noch vor 10, 15 oder 20 Jahren", erklärt er. Das habe unter anderem mit Ex-Manager Oliver Bierhoff zu tun. "Der hat die Kommerzialisierung auf die Spitze getrieben, hat aus der Nationalmannschaft ein Kunstprodukt, also ein Produkt im wahrsten Sinne des Wortes, gemacht."
Das sei bis 2014 oder 2015 "noch halbwegs gut" gelaufen, so der Fanforscher. Aber spätestens mit dem Misserfolg von Deutschland in Russland 2018 sei das Konstrukt zusammengebrochen. "Und man ist bis heute beim DFB nicht in der Lage, diese Nationalmannschaft wieder bodenständiger rüberzubringen", meint Lange. "Sondern man macht weiter mit diesem PR- und Wirtschaftsklamauk."
"Management muss wieder mehr auf Fans zugehen"
Hinzu käme, dass große Fußballverbände wie DFB, UEFA und FIFA nicht fähig seien, die Korruptionsskandale der vergangenen Jahre aufzuarbeiten, sagt der Sportwissenschaftler. "Das ganze Management um die Mannschaft herum müsste wieder mehr auf Fans zugehen - was sie zum Teil auch schon machen - und müsste glaubwürdiger sein."