Handschriftlicher Tagebucheintrag (Scan) von Theodor Piper, 23. August 1916, Text: Kreuz im Leben. Bei Fränkel. Er hat schlimmes Bein. Seit März eitert es immerfort, hat lauter Löcher. Er soll viel liegen, aber es wird ihm zu langweilig. Wenn er schwerere Arbeit macht, dann hat er furchtbare Schmerzen. Sein Sohn Christian ist e. Jahr fort. Er schreibt, daß er keinen Urlaub bekommen könne. D. Vater kommen d. Tränen in d. Augen. Wie sollen sie d. Ernte hereinbekommen. Haben nur d. Tochter Emma aus Gefell zuhilfe."

- 1916

Der Krieg zieht sich weiter in die Länge, in einem aussichtslosen Stellungskampf. Verwundete Heimkehrer erzählen vom Grauen an der Front - auch in Seubtendorf. Zugleich sinkt die Bereitschaft der Bevölkerung, Kriegsanleihen zu zeichnen.

27. Januar 1916

½ 9 Künsdf Gottesdienst mit Platzkonzert durch die Schulkinder; ½ 11 Langgrün, ebenfalls Platzkonzert. 2 Uhr Seubtendorf, Hubrich war zu faul zum Platzkonzert. ('Was nicht Vorschrift ist, nicht bezahlt wird und wobei es nichts zu essen gibt, das brauch ich nicht zu machen!') Ps. 91 “Den Kaiser segnen u. d. Vaterland“, Gedicht auf den Kaiser (habe geweint) – Festessen: Grünkohl u. Speck (im Krieg eine Seltenheit!) und abends Rote Grütze! – Hinterher ein Bitterer!

23. Februar 1916

Besuch in Künsdorf bei Schmidt in ziemlich schmutziger Stube. Die Frau erzählt von dem Ältesten, der im September nach Rußland kam. Hat sehr Hunger leiden müssen und jämmerlich geschrieben. Rohe Kartoffeln gesucht in der Dunkelheit, dazu die Kälte. Dann bei Wachter. Seine Tochter Elsa hat Augenentzündung seit vier Wochen. Sorge der Eltern. Zweimal in Plauen. Sie soll in die Klinik, aber woher das Geld nehmen? Wenig zu essen bei den Preisen.

1. März 1916

Man erlebt schauerliche Dinge! Eine Konfirmandin ist in anderen Umständen. Ein Berliner Weib wollte es abtreiben. Dr. Karkosch hat sie angezeigt. Bezirksarzt Franz und der Obergendarm kommen im Auto und nehmen das Weib in Haft. Die Hebamme wurde bestellt, da Frühgeburt! Der schuldige Bursche ist der Sohn des Bürgermeisters, noch nicht 18 Jahre alt! Lösch und seine Frau klagten über die unbeschreibliche Verrohung der Langgrüner Jugend. Von den Schulentlassenen grüßt ihn niemand mehr. Keine Entbindung kommt vor, ohne daß die Schulkinder nicht Alles bis ins Kleinste wissen. Frau Lösch sagte, in den ersten Jahren hätte sie immer geweint in solchen Fällen, aber sie sei auf dem Standpunkte, daß man mit den Wölfen heulen müsse. Ihren Jungen täten sie deshalb von Langgrün fort, weil er auch schon in dem rohen Ton hereinkomme.

24. April 1916

Ostermontag, Gottesdienstes Seubtendorf 8 Uhr, Langgrün ½ 11 Uhr. In Langgrün sage ich den Leuten die Wahrheit wegen Verrohung der Jugend.

7. Mai 1916

Ich spiele seit vorigem Sonntag selber die Orgel, da Hubrich eingezogen ist.

2. Juni 1916

Große Seeschlacht bei Jütland. Die Fahnen kommen seit langer Zeit wieder zum ersten Male heraus

30. Juli 1916

Mitte der Woche setzt endlich trockenes und warmes Wetter ein. Die Heuernte wird beendigt, das Getreide reift und wird gelb. Wir leben von Gemüse und Beerenobst. Von der massenhaften Pilzernte haben wir nicht viel, da sie meist von Städtern geholt wird.

23. August 1916

Besuch bei Fränkel. Er hat ein schlimmes Bein. Seit März eitert es immerfort, hat lauter Löcher. Er soll viel liegen, aber es wird ihm zu langeweilig. Wenn er schwerere Arbeit macht, hat er furchtbare Schmerzen. Sein Sohn Christian ist jetzt ein Jahr fort. Er schreibt, dass er keinen Urlaub bekommen könne. Dem Vater kommen die Tränen in die Augen. Wie sollen sie die Ernte hereinbekommen. Haben nur die Tochter Emma aus Gefell zuhilfe.

24. August 1916

Der Sohn von Rank in Langgrün auf Urlaub. Am Montag sprach ich ihn. Er war mit an der Somme. Dort leicht verwundet. Am 3. Juli kam er hin. Vorher hatten die deutschen Linien sieben Tage unter schwerem Artilleriefeuer gestanden. Da war alles zerrissen. Arme und Beine lagen umher, Reitstiefel, in denen die Beine noch drinsteckten. Jeder hat es satt. Begeisterung hat keiner mehr. – So erlebt man auch zu Hause das Grausen d. Krieges mit.

5. Oktober 1916

Nur 2800 M Kriegsanleihe! Die Leute sind verhetzt durch die Soldaten, die sagen: Zeichnet keine Kriegsanleihen, sonst hört der Krieg nicht auf!

31. Oktober 1916

Wir preisen uns jeden Tag, daß wir bei der Lebensmittelknappheit nicht in der Stadt wohnen!

26. November 1916

Die Mädchen sammeln Mehl und Eier, um für die Soldaten zu Weihnachten zu backen

30. November 1916

Großes Weihnachtsbacken für die Soldaten

4. Dezember 1916

Bis 12 Uhr Soldaten-Weihnachtspakete mit den Mädchen packen, Gedicht abschreiben:

Einfügung

Da leider Du nicht kommen kannst nach Haus
Und kämpfen mußt für uns im blutgen Streit,
So senden wir Dir diesen Gruß hinaus,
Daß er zu Weihnacht Freude Dir bereit’!

In Liebe kommen uns’re süßen Gaben
Aus Deiner Heimat Haus, aus Freundes Hand,
In Treue senden wir sie Dir und haben
Den Wunsch nur, daß es Friede werd’ im Land!

Die Seubtendorfer Mädchengesellschaft.
Gedicht in den Weihnachtspaketen mit Kuchen an 60 Seubtendorfer Soldaten.

 

21. Dezember 1916

In Langgrün kann zu Weihnachten nicht mehrstimmig gesungen werden, wegen Feindschaft unter den Mädchen.

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Bildcollage, li.: Wohnstube des Pfarrhauses Seubtendorf, im Hintergrund Marie Piper (geb. Kosbahn) um 1914, re.: Marie Piper (geb. Kosbahn) mit ihren Enkelinnen Ruth (li.) und Marianne (re.), im Hintergrund ihre Schwiegertochter Anne Piper, geb. Stiefelhagen. - Reproduktion: R. Piper © 2014

Pastor Pipers Tagebücher

Vor 100 Jahren, im August 1914, begann der 1. Weltkrieg. Wie hat sich die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" in einem kleinen Dorf in Deutschland abgespielt? Darüber geben die Tagebuchaufzeichnungen von Theodor Piper Auskunft, Pfarrer in der 200-Seelen-Gemeinde Seubtendorf.