Handschriftlicher Tagebucheintrag von Theodor Piper, v. 1. August 1914 (Auszug).Text: Sonnabend kam noch der Mobilmachungsbefehl u. setzte d. ganze Dorf in Aufregg. Sonntag früh machte ich meine Predigt und hatte in Künsdorf um ½ 11, in Langgrün um 2 Uhr u. hier in d. Kirche. Überall starker Besuch u. große Erregung! Es ist nicht leicht, Menschen innerlich auf einen Krieg vorzubereiten. Da muß man selber innerlich sehr fest sein! - Übertragung aus dem Sütterlin durch Ehrenamtliche Sütterlinstube im Hospital zum Hl. Geist, Hamburg, 2014. © A. Piper, 2014

- 1914

Den Kriegsausbruch erlebt Theodor Piper auf einer Zugfahrt von Aurich zurück nach Seubtendorf. 25 Stunden ist er ohne Pause unterwegs. In Stendal kauft er den "Berliner Lokalanzeiger" mit der Überschrift "Russland will den Krieg!"

29. Juni 1914

Um 8 Uhr mit Anne nach Plauen. Ich zum Zahnarzt. Anne macht Besorgungen. Wir erfahren die Nachricht von der Ermordung des Österreichischen Thronfolgerpaares. Um 4 sind wir wieder zurück. Mäßig warm. Ich pflanze Chrysantemen ins Hausgärtchen. Abends Platten entwickeln.

1. August 1914

Am 23. war von Österreich d. Ultimatum gestellt worden u. nun fing mit der Einmischung Rußlands die furchtbare Spannung von 8 Tagen an, die zum Ausbruch des Weltkrieges führte. Jede Zeitung und jeder Depeschenanschlag wurde mit Spannung erwartet. Hans kam oft mit übereilten Nachrichten u. erregte damit Vaters Zorn.

Am Donnerstag den 30. rückte das Bataillon, das vorzeitig aus dem Manöver kam, nach Borkum ab. Auf dem Bahnhofe war mächtiger Auflauf. Die Leute standen z.T. auf den Wagen. Die Musik spielte die Wacht am Rhein. Alle hatten das Gefühl, dass es nun Ernst werden würde.

Ich hatte mit der Abreise immer noch gezögert, bis von Anne am Freitag 12 Uhr ein Telegramm kam, daß ich sofort kommen solle, da zum Sonntag Gottesdienst gewünscht wurde. Um ½ 2 Uhr saß ich auch schon auf der Bahn und fuhr mit der Kreisbahn über Wittmund auf der Hauptstrecke nach Oldenbg. In der Bahn und überall wurde nur vom drohenden Kriege gesprochen.

In Stendal bekamen wir den Berliner Lokalanzeiger, der die Gewissheit des Krieges brachte: „Russland will den Krieg!“, war die große Überschrift. Das dumpfe Gefühl eines furchtbaren Verhängnisses lastete auf Allen. Man war noch nicht gefasst auf dieses Unmöglich Scheinende, und voll Grausen dachte man an das unermeßliche Weh, das nun über Deutschland kommen sollte.

2. August 1914

Hier war das reine Idyll gegen die Aufregung in den Städten und auf den Bahnhöfen. Man konnte gar nicht glauben, daß Krieg sein sollte. Solch Heimkommen ist doch das Schönste am Urlaub, wenn man Frau und Kinder wieder hat. – Die Gegensätze sind doch groß! Aus dem schwülen Ostfriesland in unser leichtes und rauhes Klima, aus Kriegsunruhe in tiefsten Frieden, aus dem schwerfälligen und etwas opulenten Haushalte meiner Eltern und unserem einfachen, heiteren Betrieb, aus der Ferne wieder ins beglückende Heim!

Am Sonnabend kam noch der Mobilmachungsbefehl u. setzte das ganze Dorf in Aufregung. Sonntag früh machte ich meine Predigt und hatte in Künsdorf um ½ 11, in Langgrün um 2 Uhr und hier Gottesdienst in der Kirche. Überall starker Besuch und große Erregung! Es ist nicht leicht, Menschen innerlich auf einen Krieg vorzubereiten. Da muß man selber innerlich sehr fest sein!

4. August 1914

Früh in Künsdorf. Dort Aufregung wegen französischer Automobile, die mit Geld nach Rußland unterwegs sein sollten. Die Straßen wurden gesperrt. Besuche bei Rudolph und Fröhlich. In Seubtendorf ordne ich ebenfalls Sperrung der Straßen an. Kriegstrauung Ramk-Vogel, Haustaufe Haller. Abends Versammlung betr. Verstärkung der Wache im Dorfe. Ich hatte sie einberufen, nachher kam der Bürgermeister und machte das Weitere

16. September

Predigt für Kriegsbetstunde machen. Ihr Ziel ist, den Leuten den Krieg, seine Größe und seinen Schrecken bewusst zu machen, an der Hand von Zeitungsberichten, die ihnen erklärt werden. Predigttext: Apokalypse Kap. 2, Vers 10: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“. Zeitungsberichte: "Sedan in Feindesland", "Untergang der Ariadne".

5. Oktober 1914

Nach Plauen fahren. Unterwegs mit geheilten Verwundeten. Sie erzählen interessante Sachen, wie die Kugeln pfeifen, wie ihr Oberst durch deutsches Feuer gefallen ist, wie ein Leutnant von einer Granate in die Erde gespießt wurde, wie sie im französischen Quartier sich mit Damenwäsche bekleideten.

11. Oktober 1914

Ich muß zur Frau Liebold und ihr mitteilen, daß ihr Sohn Otto gefallen ist. Ihre Nichte ist bei ihr, wusste schon davon, wagte aber nicht, es ihr zu sagen. - [...] Abends 1. Sitzung des Jugendvereins. Matte Stimmung. Ich lese vom Krieg aus der Zeitung vor. Es ist wenig Interesse dafür. Man interessiert sich eigentlich für nichts. Nur auf ganz grobe Reize reagiert solcher Stumpfsinn. Nur dann würde ich sie gewinnen, wenn ich sehr derbe Witze oder blutrünstige Geschichten erzählen würde oder ihnen Gelegenheit zum Saufen und zur Unsittlichkeit gäbe. O. Mann und K. Marzaan werden in den Vorstand getan. Zu einer Wahl rafft man sich nicht auf. Die größeren Burschen verkrümeln sich allmählich. Ich spiele noch mit den Jüngeren Wettrennen. Der ganze Jugendverein lässt sich so nicht halten. Ich muss mich immer krampfhaft bemühen, die Jungen zusammen zu halten. Der innere Trieb zu der Sache, die ich vertrete, ist bei ihnen nicht vorhanden.

13. Oktober 1914

Bei Frau Liebold, Lebenslauf von ihrem Sohn machen. Abends kommt der Brendel und schimpft übers Rote Kreuz, weil sein Albin noch keine Pakete bekommen hat

14. Oktober 1914

Nach dem Gottesdienst Versammlung der Frauen, die Soldatenpakete schicken wollen. Anne macht ihnen klar, dass das Rote Kreuz nicht Schuld, wenn die Feldpost schlecht arbeitet. Besprechung über Stricken von Kniewärmern etc., Pakete zuschnüren

15. Oktober 1914

Kriegsbetstunde Künsdorf. Danach besprechen ich und Anne mit den Künsdorfer Frauen das Sammeln von Leinen für das Rote Kreuz. Man muss sich immer den Mund funzlich reden.

18. Dezember 1914

Nachricht vom großen Russensieg Hindenburgs in Polen. Es wird geläutet und die Fahnen werden heraus geholt.

Zurück zur Übersicht

Bildcollage, li.: Wohnstube des Pfarrhauses Seubtendorf, im Hintergrund Marie Piper (geb. Kosbahn) um 1914, re.: Marie Piper (geb. Kosbahn) mit ihren Enkelinnen Ruth (li.) und Marianne (re.), im Hintergrund ihre Schwiegertochter Anne Piper, geb. Stiefelhagen. - Reproduktion: R. Piper © 2014

Pastor Pipers Tagebücher

Vor 100 Jahren, im August 1914, begann der 1. Weltkrieg. Wie hat sich die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" in einem kleinen Dorf in Deutschland abgespielt? Darüber geben die Tagebuchaufzeichnungen von Theodor Piper Auskunft, Pfarrer in der 200-Seelen-Gemeinde Seubtendorf.