Vis à vis - Sascha Feuchert: Die Veränderung der Holocaust- und Lagerliteratur
Die Literatur, die sich mit dem Holocaust befasst, verändert sich. Das Authentizitätsgebot gelte nicht mehr, sagt Literatur-Professor Sascha Feuchert. Von Liane Gruß
Den Beruf von Sascha Feuchert gibt es so nur ein Mal in Deutschland: Er ist Literatur-Professor an der Universität Gießen - mit dem Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur. Viele würden sich bei ihm erkundigen, was das denn überhaupt sei: Holocaust- und Lagerliteratur. "Und dann sage ich immer, dass das Tagebücher sind, Chroniken, fiktionale Texte, die eben über den Holocaust sprechen", so Feuchert.
Die Literaturwissenschaft begreife die Holocaust- und Lagerliteratur dabei als eigene Literatur-Gattung, die ab dem Jahr 1933 aufgekommen sei. Denn schon mit dem Einrichten der Terroreinrichtungen von den Nationalsozialisten seien erste Texte verfasst worden. "Das heißt, Menschen, die aus diesen Lagern wieder entlassen worden sind, haben ihre Erfahrungen dokumentiert. Das konnte natürlich nur um Ausland publiziert werden."
Viele Überlebende erzählen fiktional
Primo Levi, Elie Wiesel, Rut Klüger seien hier Autorinnen und Autoren, deren Werke besonders bekannt wurden. Viele Erfahrungen seien dabei in fiktionalen Erzählungen verarbeitet. Dabei kämen bis heute neue Werke hinzu: "Der jüdische Widerstand wird jetzt endlich, endlich entdeckt als Gegenstand von Holocaust-Literatur", so Feuchert. Empfehlenswert sei etwa David Safiers Roman "28 Tage lang" von 2014.
Der Literatur-Professor untersuche dabei auch, wie sich die Holocaust-Literatur über die Zeit verändere: "Wer schreibt über welche Themen – und wie?" Weil immer weniger Zeitzeugen noch lebten, kämen etwa immer weniger Memoiren von Betroffenen hinzu. "Damit steigt natürlich die Anzahl der fiktionalen Texte: Romane, auch Dramen", so Feuchert.
Problematische Entwicklungen
"Man könnte so ein bisschen salopp sagen, dass sich der Umgang mit dem Holocaust vereinfacht. Es gilt nicht mehr dieses Authentizitätsgebot", sagt der Literatur-Professor. Dabei gebe es auch Versuche, mit dem bestehenden Stoff zu arbeiten. So, wie das Max Gross in seinem Roman "Das vergessene Schtetl" getan habe.
"Andererseit gibt es auch problematische Entwicklungen, also wenn Sie an solche Texte wie Heather Morris 'Der Tätowierer von Auschwitz' denken, die doch sehr, sehr lose mit der Faktenlage umgehen", so Feuchert. Diese Autorinnen und Autoren würden den Holocaust bloß benutzen, um andere Dinge zu erreichen.
Grundsätzlich stünde der Literatur-Professor auch solchen Werken offen gegenüber: "Da ist für mich das Allererste, was man sagen muss: Literatur darf erst einmal alles. Und danach müssen wir drüber reden: Ist es gut oder ist es nicht gut?" Die fiktionalen Texte haben dabei allerdings eine große Verantwortung. "Fiktionen sind wirkmächtig. Die sind in der Lage, Geschichte zu überschreiben", so Feuchert.