Ein verwitterter Aufkleber aus der deutschen Wendezeit von 1990 mit der Aufschrift "Wir sind ein Volk"
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Vis à vis - Haben Ostdeutsche einen Freiheitsschock, Herr Kowalczuk?

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk sagt, die Menschen in Ostdeutschland seien aus der Bevormundung der Diktatur zu schnell in die Demokratie "geworfen" worden. Wie lässt sich der Wert der Freiheit vermitteln? Von Natascha Freundel

"Freiheit ist für mich das wichtigste, was es im Leben gibt", sagt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Erlebt hat sie der Ostberliner nicht immer. Die Erforschung der gesellschaftlichen Veränderungen seit dem Ende der DDR und deren Folgen hat sich der 57-Jährige zur Lebensaufgabe gemacht.

Kowalczuks These: Die Wende hat für viele Ostdeutsche einen "Freiheitsschock" bedeutet. "Viele Menschen in Ostdeutschland sind aus einem vormundschaftlichen Staat, aus einer Diktatur, in die Freiheit, in die Demokratie, geradezu geworfen, gespült worden." Sie hätten große Schwierigkeiten, mit den neuen politischen Rahmenbedingungen zurechtzukommen. "Denn Freiheit bedeutet für mich auch Einmischung in die eigenen Angelegenheiten - ich muss selber aktiv werden - und das fällt vielen sehr schwer."

"Zu viele ruckartige Veränderungen überfordern die Menschen"

 

Geschahen die Umbrüche in der deutsch-deutschen Geschichte zu schnell? "Ich hätte mir auch damals einen behutsameren Weg gewünscht", sagt Kowalczuk. "Ich weiß aber auch nicht, was wäre ein anderer, gangbarer Weg gewesen, weil drei Viertel der Menschen wollten genau das." Aus der Weltgeschichte wisse man aber: "Zu viele ruckartige Veränderungen überfordern die Menschen."

In der aktuellen politischen Stimmung im Zuge der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg scheint die freiheitliche Gesellschaft immer mehr in Gefahr. Wie lässt sich also der Wert der Freiheit besser vermitteln? Das wichtigste sei Partizipation, meint Kowalczuk. "Wir müssen die Möglichkeiten erweitern, dass Menschen auch wirklich an Entscheidungsfindungsprozessen beteiligt sind."

Nur so könne man lernen, wie kompliziert demokratische Prozesse seien, so Kowalczuk. "Und das andere, was ich immer als wichtig empfinde: Wahrheit, Wahrheit, Wahrheit."

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