Vis à vis - Rainer Herrn: "Das Geschlecht steckt nicht im Körper, sondern in der Seele"
Wo immer es um sexuelle Diversität geht, wird schnell polemisch debattiert. Erfunden hat den Begriff des "dritten Geschlechts" der Berliner Arzt Magnus Hirschfeld vor über 100 Jahren. Matthias Schirmer spricht darüber mit Rainer Herrn, Vorstand der Magnus Hirschfeld Gesellschaft.
Magnus Hirschfeld war einer der bekannteste Berliner Sexualwissenschaftler im vergangenen Jahrhundert und ist bis heute Ikone der LGBTQ*-Szene. Denn er ist auch der Erfinder der Zwischenstufentheorie: "Das bedeutet nichts anderes, dass jeder Mensch sowohl sogenannte männliche und sogenannte weibliche Eigenschaften in sich vereint und insofern jeder Mensch in gewisser Weise eine Zwischenstufe sei", erklärt Rainer Herrn.
Rainer Herrn ist langjähriger Mitarbeiter des Instituts für die Geschichte der Medizin und Vorstandsmitglied der Magnus Hirschfeld Gesellschaft. Er erklärt, in der Zeit um die Jahrhundertwende herum, als Hirschfeld Sexualwissenschaftler wurde, sei eine Krise der Männlichkeit gewesen. Unter anderem weil Frauen im 19. Jahrhundert angefangen haben, ihre politischen Rechte einzufordern: "Und das haben die Männer als große Bedrohung wahrgenommen."
Hirschfelds Theorie: Arzt kann nicht über das Geschlecht befinden
Hirschfeld hat unter anderem etwa 1907/08 gesagt: "Das Geschlecht eines Menschen steckt nicht in seinem Körper, sondern in seiner Seele. Und darüber kann der Arzt nicht befinden, sondern nur das Subjekt selbst". Hirschfeld habe zu der Zeit bereits die sexuelle Vielfalt sowie die sexuelle Selbstbestimmung der Frau mitgedacht. Außerdem hat er festgehalten, dass Sexualität ist viel mehr als Fortpflanzung sei.
Matthias Schirmer redet mit Rainer Herrn darüber, woher die aggressive Energie der heutigen Debatten um Diversität kommt, wie hart vor 100 Jahren gestritten wurde und was wir vom Erfinder des "dritten Geschlechts" heute lernen können.
Das Vis à Vis ist eine Wiederholung aus dem März 2023.