Nahaufnahme eines Mannes, der ein Stracciatella-Eis in einer Waffel im Sommer schleckt.
picture alliance / CHROMORANGE | Michael Bihlmayer
Bild: picture alliance / CHROMORANGE | Michael Bihlmayer Download (mp3, 3 MB)

100 Sekunden Leben - Eis schlecken

Nahrungsaufnahme im öffentlichen Raum ist für Zuschauende so eine Sache - vor allem bei Eis. Das findet zumindest unser Kolumnist Hendrik Schröder.

Kaum zeigt sich draußen auch nur eine winzige Seite des ersehnten Frühlings geht sie wieder los: die Leckerei. Oder soll ich sagen: Das Lecken? Ist vielleicht eindeutiger. Die Leute stehen stundenlang Schlange um an einer viel zu kleinen Eisbude ihrer Wahl für gefühlt 25 Euro pro Kugel irgendein gehyptes Eis wie, was weiß ich, Grünkern-Avocado-Chili in eine labbrige Waffel pressen zu lassen.

Das alleine gingen einen ja nichts an. Kann ja jeder sein Geld für gefrorenen Industriezucker rausschmeißen, wie er will. Aber danach geht die Qual ja los. Da schlendern die Leute dann durch die Straßen, bevölkern die Parks und Plätze und lassen ihren Zungen freien Lauf, wie sie es sonst nur im aller-privatesten Kontext tun würden. Sie wissen, was ich meine. Aber mit Eis in der Hand ist das plötzlich nicht anzüglich, übergriffig, peinlich und distanzlos, wenn man im Sichtfeld anderer Menschen an irgendwas rumleckt, sondern Ausdruck von Sommer, Sonne, Lebensfreude.

Überall züngelt und leckt es

 

Und so läuft man als Unbeteiligter durch die Stadt und alle zehn Meter streckt einem jemand die Zunge entgegen wie eine Echse beim Abendessen. Dunkelrote Zungen, hellrote Zungen, mit Bakterien belegte Zungen. Überall züngelt und leckt es munter vor sich hin wie im Swinger Club und man kann dem an schönen Tagen nur entkommen, wenn man die Augen schließt. Was im Stadtverkehr selten eine gute Idee ist.

War die geschleckte Kugel aus der Waffel Jahrtausende lang den Kindern vorbehalten, quasi ein erlaubter sonntäglicher Ausbruch aus den sonst strengen Tischmanieren, wurde es irgendwann schick, dass auch Erwachsene aller Altersgruppen das Eis direkt mit der Zunge in den Rachen transportieren. Statt ein Eis im Becher zu nehmen. Mit Löffelchen. Und wie halbwegs kultivierte Menschen eine Süßspeise zu konsumieren, ohne dabei anderen Menschen im 20 Sekunden Takt Körperteile zu präsentieren die diese gar nicht sehen wollten. Schlimm.

Man sollte darüber nachdenken, Eis in der Waffel nur bis 16 zu verkaufen. Mit Ausweiskontrolle. Alle darüber: Becher bitte. Schlimmer als die schambefreiten Zungenzeiger sind eigentlich nur Männer, die sich bei jeder Gelegenheit das T-Shirt ausziehen, um ihren Oberkörper zu präsentieren. Aber das … ist eine andere Geschichte.

Auch auf rbb24inforadio.de

100 Sekunden Leben
rbb

100 Sekunden Leben

Doris Anselm, Thomas Hollmann, Wlada Kolosowa, Sebastian Schiller, Hendrik Schröder und Ebru Taşdemir betrachten mit einem schrägen Seitenblick Phänomene aus ihrem analogen und virtuellen Leben.