100 Sekunden Leben - Botanisierte Musik
Lange hatte sie die Dinger verachtet – aber jetzt hat Kolumnistin Doris Anselm sich doch eine Boombox gekauft. Den kleinen kabellosen Lautsprecher benutzt sie allerdings nicht unterwegs, sondern zuhause. Jetzt muss sie das nur noch ihrer Mutter erklären.
Ich habe mal gehört: Erwachsen ist man, wenn man sich nicht mehr danach sehnt, von seinen Eltern verstanden zu werden. Eigentlich traurig. Ich rede ganz gern mit meinen Eltern, und manchmal verstehen sie mich sogar. Peinlich wird’s immer dann, wenn umgekehrt ich nur Bahnhof kapiere. Beziehungsweise Botanisiertrommel.
"Mama, ich hab’ jetzt eine Boombox", erzähle ich am Telefon meiner 77-jährigen Mutter, die sich brav an die Regeln hält und ihre ganz doll technikaffine Tochter ehrfürchtig fragt: "Aah ja! Eine was?". Großzügig erkläre ich es ihr. "Nein, Mama, Kabel braucht man nicht mehr", und so weiter. Plötzlich bricht es enthusiastisch aus ihr heraus: "Ich glaub, das kenn ich! Von meiner Vorturnerin bei der Gymnasik! Die stellt das immer in die Mitte und macht da drauf Musik an! Sieht aus wie so eine kleine Botanisiertrommel!" – "Ja, genau! Schöner Vergleich!", sage ich, weil ich keine Ahnung habe, wovon sie redet. Botani-was?
Als wir aufgelegt haben, google ich erstmal. "Aah ja!" Das waren so Röhren zum über die Schulter hängen, aufklappbar, hat man Pflanzen drin gesammelt, um sie zu bestimmen. Bevor es Google Lens gab. Ach was: Bevor es die Fotografie gab! So alt ist meine Mutter auch wieder nicht, und trotzdem kennt sie noch dieses Gadget. Das ist ungefähr so, als müsste ich noch wissen, wie eine Milchschleuder aussieht (erfunden 1876). Respekt, Mama. – Poetisch ist das Ganze irgendwie auch: Die gleiche Form, in der man früher die Natur mit nachhause ins Wohnzimmer gebracht hat, bringt heute den Wohnzimmersound raus in die Natur. Wobei ich mir geschworen habe, den Leuten am See meinen Musikgeschmack zu ersparen und die Boombox höchstens auf dem Balkon einzusetzen. Der ist mir auch botanisiert genug.