Brief der Krankenkasse
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100 Sekunden Leben - Meine Krankenkasse bricht mir das Herz

Beim Online-Dating kommt es häufig vor: Leute "ghosten" jemanden, also melden sich einfach nicht mehr, ohne Abschied und ohne Erklärung. Kolumnistin Doris Anselm aber fühlt sich plötzlich in ganz anderen Bereichen geghostet.

Eigentlich glaube ich nicht, dass meine Krankenkasse mir das Herz brechen will. Das wäre auch unwirtschaftlich, weil die mir dann ja den Herzschrittmacher bezahlen müssten. Doch neuerdings benimmt sich meine Krankenkasse wie eine bindungsgestörte Tussi nach dem vierten Date: Ich habe ein Problem angesprochen, sie hat gesagt, sie schickt mir was dazu, und jetzt höre ich seit mehreren Wochen – nichts. Die ghosten mich! Bin ich da überhaupt noch versichert?! Wer weiß.

Ähnliche Herzensbrecher-Attitüden legt die Firma an den Tag, die bei uns die Wasserzähler tauschen soll. Mehrmals hingen Zettel mit Termin im Hausflur. Doch immer am Tag X, wenn ich mich schön gemacht und überall rasiert – äh, Quatsch, ich mein': wenn ich die Ecke um den Wasserzähler herum freigeräumt hatte, tauchte kein Mensch auf. Klar schlägt das aufs Selbstwertgefühl! Ist unser Haus nicht attraktiv genug? Die Fassade bröckelt vielleicht ein bisschen, aber sonst ist es sehr liebenswert!

Als nächstes fand mich offenbar die DHL zu anhänglich, um nicht zu sagen: needy. Nachdem ich die kaputte Packstation gemeldet hatte, versprachen sie mir das Blaue vom Himmel! Eine Reparatur und die Umleitung meines bestellten Produkts. Nichts davon geschah.

Ich bin wirklich froh, dass man von Firmen nicht schwanger werden kann. Inzwischen male ich mir schon aus, wie ich demnächst nachts um drei weinend bei Amazon anrufe, mit dem Vorsatz, aufzulegen, falls die Ehefrau rangeht. Oder dass ich unangekündigt in der Berliner Vattenfall-Zentrale auftauche, damit die mir wenigstens ins Gesicht sagen müssen, wir hätten uns auseinandergelebt. Wenigstens verstehe ich endlich, warum Freunde von mir ungefähr halbjährlich Gas-, Strom- und Telefonanbieter wechseln: Sie haben einfach Angst, verletzt zu werden.

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100 Sekunden Leben
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100 Sekunden Leben

Doris Anselm, Thomas Hollmann, Wlada Kolosowa, Sebastian Schiller, Hendrik Schröder und Ebru Taşdemir betrachten mit einem schrägen Seitenblick Phänomene aus ihrem analogen und virtuellen Leben.