100 Sekunden Leben - Werd’ doch, wo du wohnst!
Sensibel sein für die eigene Umwelt und durchlässig für Veränderung: Das ist doch was Gutes, dachte Kolumnistin Doris Anselm bisher. Dann ist sie umgezogen – und jetzt irgendwie nicht mehr dieselbe.
Seit meinem Umzug bezweifle ich, dass meine Persönlichkeit, mein "Ich" wirklich stabil und gefestigt ist. Früher waren wir uns da immer alle einig. Na ja. Früher habe ich in Berlin-Mitte gewohnt. Da musste ich im Café auf Englisch bestellen. Logisch, denn schließlich kam der Barista aus Österreich. Hä? Bald klang mein eigenes Englisch wie das von Falco in "Rock me, Amadeus".
Jetzt wohne ich im bodenständigen Wedding. Hier wirkt alles tendenziell türkisch-arabisch, weshalb es mich wundert, dass mir meine Finnisch-Kenntnisse beim Bestellen so gar nicht weiterhelfen. Egal. Wenigstens habe ich im Restaurant zum ersten Mal seit Jahren wieder einen flachen Teller gesehen. Im hippen Mitte gab es nur noch "Bowls". Lecker waren die schon, und damals dachte ich, ich könnte nicht mehr ohne so eine gesunde fair-trade-Quinoa-Chia-Avocado-Rainbow-Schüssel ab und zu. Und jetzt? Jetzt finde ich mich plötzlich in einem Chicken-Laden wieder, wo ich, eine Styropor-Box in der Hand, offenbar gerade dabei bin, genussvoll ein halbes Grillhähnchen aus aller-unglücklichster Haltung zu verspeisen. Kurzum: Es geht so nicht weiter, meine Umwelt färbt zu sehr auf mich ab.
Wenn ich meine Eltern in Norddeutschland besucht habe, ssstolper ich danach jedes Maaal zeeehn Tage lang übern ssspitzen Ssstein in Ssspandau. Neulich hat mich eine Freundin ins ländliche Thüringen eingeladen. Auf gar keinen Fall, sagte ich. Den Akzent find ich zwar charmant. Aber nach einem Wochenende trete ich vermutlich in die AfD ein und lehne den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ab. Futsch ist mein eigener Job! Okay, vielleicht sollte ich ein paar Vorurteile loswerden. Oder gleich alle meine Urteile. Ich google: "Buddhistisches Zen-Kloster Berlin". Dürfte ja schon reichen, wenn ich da zweimal dran vorbeilaufe.