100 Sekunden Leben - Kein Impulskauf an der Wahlurne
Nur noch wenige Tage bis zur Bundestagswahl – und Kolumnistin Doris Anselm geht die Puste aus. Sie findet den Wahlkampf inzwischen kaum noch zu ertragen. Damit ist sie wohl nicht alleine.
Es ist wieder so weit. Wie zu schlimmsten Corona-Zeiten. Zwei meiner Freunde haben schon kapituliert. Das tägliche Getöse aus dem Wahlkampf hat sie so fertig gemacht, dass sie jetzt nur noch einmal am Tag Nachrichten konsumieren, beziehungsweise gar nicht mehr. Gewählt haben sie schon. Ich auch. Denn irgendwie habe ich bei jedem WahlKAMPF mehr das Gefühl, dass die Politiker nicht nur miteinander kämpfen, sondern alle zusammen ihr Bestes tun, um die Bürger komplett in den Wahnsinn zu treiben.
Der Ton wird mit jedem Tag schärfer. Jede Partei kündigt die sofortige Apokalypse an, für den Fall, dass man die jeweils andere wählt. Auf den letzten Metern mischen sich jetzt sogar noch die Amis ein. Ich musste an diesen Spruch übers Abnehmen denken: Dick wird man nicht zwischen Weihnachten und Silvester, sondern zwischen Silvester und Weihnachten. Und genau so entscheidet sich die Zukunft dieses Landes nicht in den zwei Wochen vor der Bundestagswahl, sondern in den 200 Wochen danach. Falls die Regierung 4 Jahre im Amt bleibt.
Natürlich macht es einen Unterschied, wer das ist – und natürlich wissen meine Freunde, wen sie mit dieser Aufgabe am ehesten betrauen würden. Aber diese Meinung haben sie sich nicht erst in den letzten zwei Wochen gebildet. Da muss ihnen keiner vorinterpretieren, wer angeblich das jeweils letzte TV-Duell, -Triell oder -Quadrell gewonnen hat. Und auch die Gewalttaten von ein paar Durchgedrehten führen bei den wirklich erwachsenen Menschen in meinem Umfeld nicht zum Impulskauf an der Wahlurne. Wer als Politiker mit sowas Kasse machen will auf den letzten Metern, wünscht sich anscheinend infantile Bürger und ist für mich unlauter. Aktuell sind das leider fast alle. Nee Leute. Wahlkampf ist wie Weihnachtsspeck: Er hat mit der Realität nur am Rande zu tun.