Ein ICE-Zug steht mit geöffneten Türen am Gleis
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100 Sekunden Leben - Meine Zugfahrt ist mein Gemüse

Jeder dritte Fernzug in Deutschland hatte im vergangenen Jahr Verspätung. Und unser Kolumnist Thomas Hollmann hat wenig Hoffnung, dass 2025 pünktlicher wird. Und nervenschonender schon mal gar nicht - wird in manchen Zügen doch eine geradezu krachende Pädagogik demonstriert.

Dass meine Zugfahrt unter keinem guten Stern stehen würde, wusste ich schon vor der Abfahrt. Da hatte mir die Bahn bereits die erste Störungsmeldung aufs Handy geschickt: „Verspätete Bereitstellung des Zuges“. Das werde ich nie verstehen, dass ein ICE, der morgens in Berlin losfährt, nicht morgens dasteht. Und dass die Stellwerke ständig kaputtgehen, kapiere ich ebenso wenig. Aber wahrscheinlich soll ich das auch gar nicht, sondern diesen Umstand lediglich zur Kenntnis nehmen: "Defektes Stellwerk".

Die weiteren Umstände lauteten: "Zug fährt ohne Wagen 8", "Technische Störung", "Verspätung aus vorheriger Fahrt". Aber immerhin waren die Meldungen auf der Rückfahrt andere. Wahrscheinlich, damit es einem nicht langweilig wird. "Reparatur an der Oberleitung", "Anschluss wartet nicht".

Und das ist nicht schön, wenn der Anschluss nicht wartet und man sich in Mannheim mit dreihundert anderen Gestrandeten um den einen freien Sitzplatz im Folge-ICE prügeln muss. Aber gelernt ist gelernt. Und so saß ich schlussendlich auf dem Platz.

Die Hoffnung, meine Störungsmeldungs-Verkrampfung würde sich jetzt etwas lösen, verflog allerdings schnell. Saß am Nebentisch doch diese Mutter mit ihrem Sohn – vor einer sehr großen Brotbox. Nur waren darin keine Brote, sondern Möhren, Paprika, Kohlrabi und Rettich. Gemüse, das offensichtlich danach ausgesucht war, beim Rein- und Abbeißen möglichst viel Krach zu machen. Und da das weitere Zerhäckseln ebenfalls bei offenem Mund geschah, muss der Krach zum pädagogischen Konzept der öffentlichen Rohkost-Vertilgung gehören.

"Aufgrund eines Notarzteinsatzes kommt es zu erheblichen Beeinträchtigungen", hieß es hinter Kassel. Dabei hatte ich weder die Mutter aus dem fahrenden Zug geworfen noch ihren Sohn.

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100 Sekunden Leben

Doris Anselm, Thomas Hollmann, Wlada Kolosowa, Sebastian Schiller, Hendrik Schröder und Ebru Taşdemir betrachten mit einem schrägen Seitenblick Phänomene aus ihrem analogen und virtuellen Leben.