100 Sekunden Leben - Kein frohes neues Jahr
Unser Kolumnist Thomas Hollmann fragt sich, warum ihm kaum jemand ein frohes neues Jahr wünscht – und ob das womöglich ein Trend ist.
Es könnte natürlich sein, dass nur mir kein frohes neues Jahr gewünscht wird, Anderen aber schon. Das wäre bedenklich und kein wirklicher Trend. Also habe ich mich hinter Türen und Verschlägen versteckt, um zu hören, wie sich Menschen begrüßen, die sich länger nicht gesehen haben. Und die wenigsten sagten: Frohes neues Jahr.
Da war beispielsweise dieser Mann. Der kam in die Umkleide meiner Muckibude und meinte: "Mahlzeit". Dabei hat die Muckibude gar keine Kantine. Okay, vielleicht glaubt der Mann, das neue Jahr wird kein frohes und wünscht dies den Leuten deshalb nicht. Aber mit schlechten Annahmen muss man aufpassen. Die können sich verselbstständigen. "Self-fulfilling-prophecy" heißt das im Psychologen-Deutsch. Oder um es mit dem leider schon verstorbenen Andreas Brehme zu sagen: "Hast du Scheiße am Fuß, hast du Scheiße am Fuß".
Außerdem sagen die Leute ja auch "Guten Tag", obschon sie im Zweifel an der nächsten Kreuzung überfahren werden. Und wie ein ganzes Jahr wird, das weiß eh kein Mensch. Ansonsten müsste man nicht umständlich Horoskope erstellen. Und irre Despoten und Weltenherrscher hat es früher auch schon gegeben. Das ist also ebenfalls keine Erklärung dafür, dass die Leute sich kein frohes neues Jahr mehr wünschen oder diese Formel nur verlegen wegnuscheln, als handele es sich um eine Geschlechtskrankheit.
Laut Etikette kann man den Jahresgruß die ersten zwei Wochen anbringen. Eine Woche hätten wir also noch, uns im verbalen Optimismus zu üben. Und das neue Jahr froh zu nennen ist allemal besser als daraus eine "Mahlzeit" zu machen.