100 Sekunden Leben - Die angebliche mittlere Backofenschiene
Eine neue Küche, das bedeutet für Kolumnistin Doris Anselm auch: eine neue Runde Küchenpsychologie. Denn die neuen Geräte haben richtig Persönlichkeit.
Seit kurzem hab ich einen sehr modernen Herd. Er ist überqualifiziert und etwas einschüchternd. Deshalb nenne ich ihn Carson. Nach dem äußerst peniblen Butler aus der englischen Historienserie "Downton Abbey". Carson kann nicht mit jedem. Über manch andere meiner Bediensteten rümpft er nur die Nase. Mein einer Topf zum Beispiel erfüllt zwar offiziell die Kriterien für ein Induktionskochfeld, trotzdem kocht Carson nur widerwillig mit ihm und schaltet sich gern mal kommentarlos ab. Auch die anderen Töpfe haben Respekt vor ihm; sie müssen nämlich immer exakt an der richtigen Stelle stehen, sonst macht Carson indigniert "Böö-dööp", wohl aus Energiespargründen.
Mit dem Backofen bin ich schneller warm geworden. Er hat eine integrierte Mikrowelle! Noch viel toller aber: Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich, ach was: SEHE ich eine "mittlere Backofenschiene". Bislang hatte ich in meinen gut 40 Jahren gelernt, dass diese angebliche mittlere Schiene nur in den Aufbackanleitungen von Tiefkühlpizzas existiert. In der Realität hatten alle Backöfen, die mir jemals unterkamen, eine gerade Anzahl von Schienen, mithin also keine mittlere.
Dass nach dieser in den Anleitungen trotzdem verlangt wurde, erklärte ich mir als Verschwörung der Öfen- mit der Tiefkühlpizza-Industrie. Stichwort Haftungsausschluss: Wenn sämtliche Kunden die Pizza entgegen der expliziten Anweisung immer auf der falschen Schiene backen, ja, dann müssen sie sich nicht wundern, wenn zum Beispiel der Käse verbrannt, verschimmelt oder plötzlich aus Plastik ist. Ich male mir aus, was Carson dazu sagen würde. Vielleicht: "Mylady, that is indeed unacceptable" – übersetzt also: "Böö-dööp".