100 Sekunden Leben - Dunkle Leidenschaft in Wollsocken
"Tageslichttauglich": Das ist ein beliebter Ausdruck zur Selbstbeschreibung auf Dating-Profilen. Aber wie wichtig ist das eigentlich, in unseren Breitengraden und zu dieser Jahreszeit? Kolumnistin Doris Anselm denkt über die dunkle Seite der Liebe nach – pünktlich zum zweiten Jahrestag ihrer eigenen.
In Vampirfilmen ist es immer ein Warnsignal, wenn man den charismatischen neuen Freund auch nach drei Monaten irgendwie noch nie bei Tageslicht gesehen hat. Wenn das in der Realität passiert, weiß man dagegen: Aha, es ist Winter in Deutschland. Genau so war’s bei meinem Freund und mir vor zwei Jahren, da muss ich dieser Tage dran denken.
In unseren Dating-Profilen hatten wir beide auf den blöden Werbespruch "tageslichttauglich" verzichtet. Schon klar, dass man in gleißender Helligkeit ein paar Falten und Poren mehr sieht. Aber als gereifte Erwachsene wissen wir: Viel wichtiger als die Tageslichttauglichkeit ist für eine funktionierende Beziehung in Berlin und Brandenburg die Dunkelheits- und Wintertauglichkeit.
Schafft man es, das Interesse aneinander aufrecht zu erhalten, obwohl man vor jedem Versuch körperlicher Intimität eineinhalb Stunden lang damit beschäftigt ist, Daunenwesten, Kapuzenpullover, Wollsocken, Funktionsshirts, lange Unterhosen, Wollsocken und Wollsocken zu entfernen? Und dann Rheumapflaster als Reizwäsche zu sehen? Dagegen ist es doch überhaupt kein Kunststück, bei Sommerhitze zusammen ins Schwitzen zu kommen und gebräunt am See auf einer Decke rumzumachen. Das ist doch für Hallodris.
Wahre Liebe hält was aus: Grippe, Graupelschauer, Schienenersatzverkehr im Weihnachtsgeschäft. Wahre Liebe unterwirft sich dem Schmerz der Fifty Shades of Graustufen am Berlin-Brandenburger Himmel (wenn’s überhaupt hell wird). Naja gut. Ich muss gestehen: Der Moment, als ich, an einem schönen Tag im März, das erste Mal die wunderschönen Augen meines Freunds im Sonnenlicht aufleuchten sah, da hatte ich nur eins im Kopf: Danke, dachte ich, danke, du schöner, blasser Mann, dass du jetzt gerade nicht zu Staub zerfallen bist.