100 Sekunden Leben - Kartoffeln auf der Flucht
Sie war wieder im Supermarkt: Dort findet Kolumnistin Doris Anselm ihre Themen am liebsten. Diesmal gibt’s Kartoffelchips mit Heimatschutz und "Sonne von hier".
Ich finde regionale Produkte super. Aber diese meine Präferenz möchte ich ungern zur Ideologie erhoben sehen. Denn dann müssten wir uns hier in Deutschland den ganzen Winter lang von Kohlsuppe ernähren. Wie früher. Jenen flatulenten Zeiten sollten wir schleunigst ein Mahnmal errichten, am besten mit Geruchs-Gedenkspender.
Warum? Weil mir in letzter Zeit im Supermarkt immer häufiger das aggressive "Heimat"-Marketing auffällt, mit dem Lebensmittelhersteller offenbar den rechten Rand der Kundschaft abschöpfen wollen. Da steht doch auf einer Tüte Kartoffelchips aus eigenem Anbau, Zitat: "Schließlich herrscht auf dem Hof Reiseverbot. Zumindest für die Kartoffeln, denn die kommen nicht weiter als Heiner mit seinem Traktor fahren würde – vom Acker bis zum Hof."
Uääh, also wenn ich Kartoffel wäre, würde ich bei solchen Worten über Flucht nachdenken. Vielleicht irgendwohin, wo man mich auch als Kumpir akzeptiert, als Röschti oder als Gratin. Es geht aber noch schlimmer. Auf einer Packung Tomaten entdeckte ich neulich eine herzförmige Deutschlandflagge, drum herum die Worte "Sonne von hier". Jawoll, denkt da der Kunde: In diesem Produkt ist ausschließlich reine deutsche Sonne! Kein einziger Strahl von dieser suspekten Südländersonne.
Und wo wir gerade dabei sind: Warum verschweigt die Regierung in der Sonnenbrand-Statistik eigentlich immer noch das jeweilige Herkunftsland der Täterin? Wo doch allen klar ist, dass die vielen illegal eingereisten Sonnen aus anderen Kulturkreisen … und so weiter und so fort. Vielleicht bin ich empfindlich, aber ich möchte sowas nicht kaufen. Ich möchte eine Notiz an die Chipstüte heften: Die Kartoffel stammt aus Südamerika, und ohne ihre Migration hättet ihr auf Eurem blöden Acker jetzt höchstens Steckrübenreiseverbot.