Übersprühtes Graffiti in Berlin
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100 Sekunden Leben - Kommt jetzt der Graffiti-Vordruck?

Auf Sprayer und Tagger, also Leute, die illegal den öffentlichen Raum beschriften, wird viel geschimpft. Zerstörungswut! Schlechter Geschmack! Nur eins ist diesen Leuten bisher wohl selten vorgeworfen worden: Faulheit. Das ändert jetzt unsere Kolumnistin Doris Anselm.

Ach, Graffiti. Früher konnte ich beim Gang durch die Stadt fast jeden Tag neue und andere Schriftzüge entdecken. Nein, ich verteidige keine Schmierereien. Aber wenigstens Originalität, die verteidige ich. In den letzten Jahren scheint mir die Graffitilandschaft monoton geworden zu sein. Politisch, ja, aber ständig kriegt man das Gefühl: Das hab ich doch schon irgendwo gelesen …? In der BILD-Zeitung? Auf einem linken, rechten, woken, wirren social-media-account? Oder war’s direkt auf einem Wahlplakat?

Am schlimmsten: Viele Sprayer sparen sich inzwischen sogar die Arbeit, selber einen Slogan hinzurotzen und korrigieren stattdessen bloß noch das Geschmier von ihrem Vorvandalen. An einer Hauswand in meinem Kiez erschien vor ungefähr zwei Jahren der Satz "Das ist nicht unser Krieg". Seitdem wird er immer abwechselnd und mit verschiedenen Farben variiert. Mal wird das Wort "nicht" entfernt, dann wieder hin gesprüht, dann übermalt und durch das Wort "doch" ersetzt. Aus dem "nicht unser" wurde ein "Euer"… und so ging es weiter.

Um die Ecke davon wird seit Monaten ein illegales Plakat abgerissen, wieder hin geklebt, unverlangt lektoriert, abgerissen … Beim Vorbeigehen muss ich aufpassen, nicht in Sekundenschlaf zu verfallen. Und ich bin Fußgängerin. Das Sicherheitsrisiko für gelangweilte Kraftfahrzeugführer ist kaum auszudenken!

Im Grunde gibt es nur noch eine Lösung für die illegale öffentliche Meinungsbildung: Den Vordruck. Also eine Art Ankreuzgraffiti. Einfach drei Meinungen zu einem kontroversen Thema an die Wand setzen, jeweils mit Kästchen oder Strichliste. Daneben baumelt an der Kette die Spraydose. Das Ganze gleich abwischbar. Geschmiert wird immer, daran lässt sich wenig ändern. Das wahre Potenzial jedoch liegt in der menschlichen Faulheit.

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100 Sekunden Leben
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100 Sekunden Leben

Doris Anselm, Thomas Hollmann, Wlada Kolosowa, Sebastian Schiller, Hendrik Schröder und Ebru Taşdemir betrachten mit einem schrägen Seitenblick Phänomene aus ihrem analogen und virtuellen Leben.