100 Sekunden Leben - Neutral ins Finale
Für wen soll man am Sonntag im EM-Finale sein? Für Spanien oder für England? Diese Fußball-Frage bereitet unserem 100 Sekunden Leben - Kolumnisten Thomas Hollmann Kopfzerbrechen.
Theoretisch könnte ich sagen: Ich bin neutral. Das ist die Schweiz schließlich auch. Und dies schon seit über 200 Jahren. Und die Schweizer sind damit gut gefahren, sich auf keine Seite zu schlagen. Kriege fanden seitdem woanders statt. Wollten die Kriegsherren doch nicht die Banken bombardieren, in denen sie ihr Geld und ihr Gold gebunkert hatten. Und war der Krieg vorbei, hatten auch die Schweizer gewonnen. Zumindest zur Hälfte. Denn sie waren ja: neutral.
So gesehen, und weil der Fußball bei dieser EM mitunter recht politisch aufgepumpt war, könnte man dem Opportunismus glatt das Wort reden und sagen: Möge der Bessere gewinnen. Und gewinnt der Schlechtere, ist der halt der Bessere. Letztlich ist ja egal, auf welche Party man geht, solange es dort Bier gibt.
Aber ich will gar nicht feiern. Weder mit den Engländern noch mit den Spaniern. Wohl aber will ich für eine Mannschaft sein. Denn dafür ist der Fußball gemacht: um parteiisch sein zu können. Nur das bringt einen emotional weiter, wenn man auch verlieren kann. Neutral zu sein ist dagegen irgendwie unentschieden. Dabei gibt es in einem Finale gar kein Unentschieden. Womit alles gesagt wäre: Das Schweizer Modell taugt nicht für den Stollen-Betrieb.
Früher habe ich über diese Dinge und Zusammenhänge nie nachgedacht. Denn früher stand Deutschland ständig im Endspiel. Da musste ich mich nicht fragen, für wen ich bin. Das ist jetzt anders. Und ich muss sagen: Mein Leben hat sich unnötig verkompliziert. Könnte ich theoretisch doch auch für den Schiedsrichter sein.