Mann ist in einem Restaurant
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100 Sekunden Leben - Fünf-Sterne-Romantik

Nach einem Besuch im Restaurant geben viele Gäste Online-Bewertungen ab. Kolumnistin Doris Anselm war gerade erst wunderschön essen – aber wenn sie es ganz genau nimmt, dürfte sie keine fünf Sterne vergeben. Das bringt sie zu der Frage: Was bewerten wir eigentlich wirklich beim Bewerten?

Online-Bewertungen zu schreiben liegt für mich zwischen unbezahlter Dienstleistung und Denunziantentum. Mach ich so gut wie nie. Mein Freund kann es also nicht ganz ernst gemeint haben, als er mich neulich im Restaurant fragte, wie viel Sterne ich vergeben würde.

Es hatte mir geschmeckt, ich war beschwipst, mein Körper fühlte sich gut an, auch, weil wir vor dem Essen eine Stunde Federball gespielt hatten, und während unseres Tischgesprächs waren gefühlt die meisten Probleme der Menschheit gelöst worden. Außerdem sah mein Freund an dem Abend sehr gut aus. "Fünf Sterne", sagte ich. "Finde ich auch", meinte er strahlend.

Dann kam die Kellnerin mit den Eiswürfeln, die wir bereits zweimal bestellt hatten, zuletzt vor einer halben Stunde, jetzt brauchten wir sie auch nicht mehr. Ein Gast lief suchend um unseren Tisch herum, er war schon der dritte, dem mein Freund routiniert den Weg zum Klo wies, vor dem wir platziert worden waren.

Zufrieden schaute ich auf meinen leeren Teller und sagte: "Den Lachs hätten sie bestimmt auch super hingekriegt", denn eigentlich hatte ich den Lachs bestellt, aber der war bereits um 19 Uhr nicht mehr zu haben gewesen.

Kurzum: Ich war glücklich. Und ich möchte gern glauben, dass andere Leute besser unterscheiden können zwischen ihrer eigenen Befindlichkeit und einer Sachlage. Aber ich fürchte, ein Café, in dem man seine Scheidungspapiere überreicht bekommen hat, kriegt nie fünf Sterne, und bei schlechtem Wetter gehen vermutlich alle Bewertungen runter (wer speist schon gern mit nassen Füßen?).

Ich will das gar nicht weiterdenken zu politischen Entscheidungen und dem Verhalten an der Wahlurne. Gruselig! Vielleicht versuche ich ab jetzt, mir zu sagen: Mit jedem Urteil bewerte ich immer auch mich selbst.

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100 Sekunden Leben

Doris Anselm, Thomas Hollmann, Wlada Kolosowa, Sebastian Schiller, Hendrik Schröder und Ebru Taşdemir betrachten mit einem schrägen Seitenblick Phänomene aus ihrem analogen und virtuellen Leben.