Mann mit offenen Schuhen
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100 Sekunden Leben - Von der Freiheit, seine Schuhe nicht zuzumachen

Unser Kolumnist Thomas Hollmann entdeckt die Bequemlichkeit. Allerdings fragt er sich jetzt, ob er auf dem Weg in die Verwahrlosung ist.

Letztens stand ich im Flur und war zu faul, meine Schuhe zuzumachen. Das Runterbücken und dieses Gefummel mit den Schnürsenkeln, dazu hatte ich keine Lust. Also bin ich so los, mit offenen Schuhen.

Im Supermarkt fiel niemandem meine Schleifenlosigkeit auf. Oder es war den Leuten egal. Auch beim Bäcker wurde ich bedient wie zugebunden. Und wieder zuhause angekommen, schlenkerte ich die Treter locker von den Füßen, und ein Gefühl der fußmäßigen Freiheit und des kalkulierten Konventionsbruches überkam mich.

Welche unnützen Anstandsregeln ließen sich wohl noch über Bord werfen? Vermutlich eine ganze Menge. Ich sollte mal wieder eine Runde S-Bahn fahren. Da bekäme ich bestimmt einige Anregungen individueller Bequemlichkeitsauslebung geboten. Wobei man in der S-Bahn über offene Schuhe vermutlich nur lacht. Da muss mindestens auch noch die Hose offenstehen.

Da fällt mir ein: Wolfgang Menge hat seinerzeit eine Kollegin von mir im Schlafanzug empfangen. Sie wissen schon, Wolfgang Menge, das war der Erfinder von "Ein Herz und eine Seele". Seinen Ekel Alfred ließ er in einem fort motzen und am Küchentisch die Fußnägel schneiden. Da war die Aufregung groß in der 70er-Jahre-Republik. Die Popularität von Ekel Alfred nahm durch dessen Pedikür-Provokation aber eher zu als ab. Ein dosierter Grad an Verwahrlosung scheinen die Leute von jeher zu mögen.

Und jetzt kommt der Sommer. Ich habe schon meine Slipper aus dem Schrank geholt. Die stehen ja praktisch immer offen, weil die gar keine Schnürsenkel haben. Und dass Slipper seit mindestens zwanzig Jahren aus der Mode sind, außer in Zehlendorfer Kuchen-Cafes, ist mir egal. Hauptsache, die Schwarzwälder Kirschtorte schmeckt.

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100 Sekunden Leben
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100 Sekunden Leben

Doris Anselm, Thomas Hollmann, Wlada Kolosowa, Sebastian Schiller, Hendrik Schröder und Ebru Taşdemir betrachten mit einem schrägen Seitenblick Phänomene aus ihrem analogen und virtuellen Leben.