100 Sekunden Leben - Wir sind die Nazis
Wie rechtsradikal ist die deutsche Oberschicht? Diese Frage wird heftig diskutiert, seit ein Video im Netz aufgetaucht ist, dass junge, offensichtlich wohlhabende Menschen dabei zeigt, wie sie auf Sylt "Ausländer raus" rufen. Unser Kolumnist Thomas Hollmann will bei dem Reichen-Bashing aber nicht mitmachen.
Ich habe festgestellt, Kinder reicher Eltern aus dem Westen sind noch bessere Feindbilder als Kinder armer Eltern aus dem Osten. Hatten Elisa, Christian und Moritz im Gegensatz zu Ronny, Maik und Chantal doch wahrscheinlich Klavierunterricht und ein Austauschjahr in den USA.
Und ich wollte mich auch schon empören über die "Sylter Nazi-Schnösel", die Champagner schlürfend "Deutschland den Deutschen" singen. Das hätte sicher Spaß gemacht, mal nicht Ronny, Maik und Chantal für ihre sächsisch-thüringische Einfalt zu dissen, sondern die Gutgeborenen, die in ihrem Wohlstand jeglichen Anstand verloren haben.
Nicht nur ein Phänomen von oben und unten
Aber dann habe ich dieses Video aus Niedersachsen gesehen, vom Schützenfest in Löningen. Da grölt der ganze Saal "Ausländer raus". Nun kenne ich Schützenfeste aus meiner Heimat und weiß daher, dass auf solche Feste nicht nur die Assis und die aus dem Golfklub gehen. Da betrinkt sich das ganze Dorf. "Deutschland den Deutschen" ist also offensichtlich nicht nur ein Phänomen von oben und unten und Sylt und Sachsen, sondern auch von denen dazwischen.
Und das ist natürlich unbequem, gesellschaftliche Geschmacklosigkeiten nicht mehr outsourcen zu können, sondern sagen zu müssen: Wir sind die Nazis. Das sagen die Soziologen im Übrigen seit Jahren, dass Rechtsaußen mittendrin ist. Der Bundespräsident war trotzdem erstaunt, dass "sich nicht nur die Randständigen und Abgehängten radikalisieren".
Vielleicht kommen die Punks zurück
Und Sylt? Was ist jetzt mit Sylt? Die Insel könnte nur noch Touristen mit demokratischem Liedgut rauflassen. Aber wie will man das sicherstellen? Auf der anderen Seite: Punks singen nicht "Deutschland den Deutschen". Und wenn die Gemeindeverwaltung die Punks nett bittet und denen das Deutschland-Ticket und das Dosenbier zahlt, kommen die vielleicht zurück - und retten Sylt den Arsch.