100 Sekunden Leben - Ist Bescheidwissen genetisch?
In einem Monat beginnt die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Kolumnistin Doris Anselm ist kein Fußballfan, hat aber trotzdem schonmal ihre innere Bundestrainerin geweckt.
Wir sind das Land der 80 Millionen Bundestrainer, daran gibt es nichts zu rütteln. Das Bescheidwissen über den Sport der anderen liegt uns im Blut. Früher hab’ ich allerdings mich selbst immer arrogant davon ausgenommen, einfach nur, weil ich mich nicht für Fußball interessiere. Aber seit letztem Wochenende weiß ich: Die Sache hängt nicht an einer bestimmten Sportart.
Ich war mit Freunden klettern. Naja. Man könnte auch sagen: Ich war mit Freunden im Biergarten. Das Etablissement, in das ich mitgenommen wurde, kombinierte nämlich Boulderfelsen und Bierbänke auf heimtückische Art und Weise in einer einzigen großen Gartenlandschaft. Und so fand ich mich, nachdem ich mit mäßigem Erfolg anderthalb Kletterstrecken ausprobiert hatte, in einem Liegestuhl wieder. Meine Hand umschloss statt eines Boulder-Griffs eine angenehm kühle Flasche.
Und, was soll ich sagen, nach ein paar Schlucken wusste ich mit Blick auf die herumturnenden Körper an der Wand ganz genau, mit welcher Strategie jede einzelne Kletterstrecke am besten zu bewältigen wäre. Was mir zuvor im Selbstversuch noch äußerst anstrengend bis völlig unmöglich erschienen war, dafür brauchte es jetzt (sowas von offensichtlich!) nur eine winzige Drehung der Hüfte, eine leichte Streckung des Arms.
Ich wurde ganz aufgeregt. Meine Erkenntnisse würden den Klettersport in Deutschland um Jahrzehnte voranbringen. Ich musste sie den Leuten sofort mitteilen! Nun ja. Rückblickend kann ich immerhin folgendes sagen: Ich glaube, es ist eine sehr gute Sache, dass die Fußballspieler bei der kommenden Europameisterschaft die konstruktiven Tipps und Kritikpunkte ihrer 80 Millionen Bundestrainer während des Spiels NICHT werden hören können.