100 Sekunden Leben - Immer schön vorwurfsvoll
Doris Anselm macht ab nächster Woche einen Monat Sommerpause. Dafür hat unsere Kolumnistin vier ihrer besten "100 Sekunden Leben" zur Wiederholung ausgesucht. Im Urlaub freut sie sich darauf, endlich mal keine Meinung haben zu müssen.
Das Leben ist seltsam geworden. Früher hat man sich, vor allem als Kolumnistin, Ärger eingehandelt, indem man zu einer Sache eine starke Meinung hatte. Inzwischen gibt es aber Themen, da handelt man sich Ärger ein, wenn man KEINE Meinung hat. Der Vorwurf lautet dann oft, das sei die Bequemlichkeit der Privilegierten, die von einem Konflikt selbst nicht betroffen sind. Diesen Vorwurf äußern meist Leute, die selbst DERART privilegiert sind, dass sie weder von diesem Konflikt, noch von allzu vielen anderen betroffen sind, so dass sie immer Zeit zum Meinunghaben haben.
Ich glaub ja, hinter diesem Drang steckt oft auch was Persönliches. Zum Beispiel will man sein Selbstbild abstützen. Irgendwo dazugehören. Oder kaschieren, dass man eigentlich doch nicht genug über ein Thema weiß, um zu einer fundierten Ansicht zu gelangen. Seltsamerweise haben die Leute kein Problem, Ihr Unverständnis zuzugeben, wenn’s beispielsweise um die Relativitätstheorie geht. Ganz anders bei dem in seiner Gesamtheit ähnlich schwer zu begreifenden Nahostkonflikt. Da bezieht inzwischen so gut wie jeder Stellung, in vielen Kreisen ist das geradezu Pflicht. Und immer schön vorwurfsvoll. Die Gegenmeinung muss erbittert bekämpft werden.
Vielleicht wäre die Welt schon etwas friedlicher, wenn weniger Leute glaubten, sie müssten eine Meinung haben. Ich persönlich habe ja zu einem Thema oft mehrere Meinungen, und ein paar weitere kann ich auch noch halbwegs nachvollziehen. Aber für die ist in 100 Sekunden kein Platz. Nur falls Sie sich gefragt haben, warum ich so oft über meine Erlebnisse beim Einkaufen rede. Das ist nicht harmlos, das ist Notwehr. Oje, die Zeit nach der Sommerpause riecht jetzt schon wieder nach Ärger.