100 Sekunden Leben - Pauschale Weltenflucht
Kann man Urlaub machen von der angespannten Weltlage? Das hat sich unser Kolumnist Thomas Hollmann gefragt und den Selbstversuch gestartet. Eine Woche Radfahren und Paella auf Mallorca statt sich Sorgen um den Zustand unserer Welt zu machen.
Mein Plan war folgendermaßen: Ich würde eine Woche lang nichts tun, außer den ganzen Tag Rad zu fahren. Abends wäre der Kopf dann derart leer getreten, dass dem die Weltlage egal ist. Und nach zu viel Paella und Zimtreis würde ich satt ins Bett fallen und friedlich einschlummern, ohne die Tagesschau gesehen zu haben.
Das Problem: Als ich den Hotelfernseher anmachte, lief dort das Erste. Und auf dem zweiten Kanal das Zweite. Wie bei mir zuhause. Danach kamen 28 weitere mir bekannte Sender, ehe erstmals jemand Spanisch sprach. Sollte meine Realitätsflucht an der modernen Satellitentechnik scheitern?
Vielleicht aber auch an den Gästen, die ich alle verstand. Denn die sprachen alle deutsch. Das stellte ich fest, als mich der Kellner durch den reichlich bevölkerten Essenssaal zu meinem Tisch geleitete. Das würde schwer werden, auf andere Gedanken zu kommen.
Immerhin: Mein Tischnachbar war stumm. Sofern er kein Bier wollte. Wenn er eines wollte, sagte er dem Kellner: "Una Cerveza" - und schwieg wieder. Möglicherweise war mein Tischnachbar in Sachen persönliche Kriegs- und Krisen-Abwehr einfach schon einen Schritt weiter und er hatte auf Eremit umgeschult.
Mit meiner Art der Weltenflucht konnte ich dennoch zufrieden sein. Das Radfahren machte mich so hungrig, dass mein Gehirn mit der Essensbeschaffung voll ausgelastet und alles ein großes, dumpfes Mampfen war. Aber dann bin an dem Tisch mit den Hessen vorbeigekommen. Und einer von denen sagte: "Ukraine". Ich bin schnell vorbeigegangen, aber da lag sie schon auf meinem Teller: die Realität. Und da habe ich mir gedacht: Scheiß drauf, jetzt kannst du auch die Tagesschau gucken.