Mann sitzt besorgt in einem Videocall
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100 Sekunden Leben - Machen Sie sich schonmal Sorgen

Wissen ist Macht – so geht der alte Spruch. Machtspiele, die dem Opfer ein Gefühl von Ungewissheit geben, sind weit verbreitet. Kolumnistin Doris Anselm beobachtet sie gerade in der Arbeitswelt – und muss dabei an üble Familien-Dynamiken denken.

Ein Bekannter von mir steckt in einer Bewerbungsphase. Nicht immer angenehm, diese mehrstufigen Verfahren mit ständigem Hin und Her zwischen Prüfung, Hoffnung, Zurückweisung, Wünschen, Ideen und Zweifeln. Jetzt hat er mir etwas erzählt, das mir eklig vertraut vorkam.

Einer der Recruiter, oder Personaler, wie das manchmal noch genannt wird, setzt ständig neue Videocalls mit ihm an, ohne zu sagen, worum es darin gehen soll. Meist bestehen diese Meetings dann aus ziemlich belanglosen, organisatorischen Infos zu den Abläufen des weiteren Verfahrens, die sich auch bestens per Mail mitteilen ließen.

Vielleicht ist der Mann bloß übereifrig. Aber mein Bekannter wird jedes Mal vor die Kamera zitiert und weiß vorher nie: Gibt’s jetzt eine weitere zeitaufwändige Test-Aufgabe? Das Jobangebot? Oder muss er sich vielleicht Auge in Auge die Absage anhören, und dann in Echtzeit darauf reagieren? Letzteres finde ich respektlos, dafür gibt’s die Schriftform. Wer sowas persönlich machen will, begeistert sich vermutlich auch für das Live-Abkanzeln in Castingshows und hat ein Glasröhrchen, in dem er Kindertränen sammelt.

Ja, das Vorgehen des Personalers erinnert auf üble Weise an Familien, die ihre Kinder bei Fehlverhalten mit zersetzenden Worten wie "Warte, bis Papa nach Hause kommt" in den Schrecken der langen Ungewissheit stoßen. Die Erwachsenenversion ist der Chef, der ein Meeting zu unbekanntem Inhalt ansetzt. Budgetkürzungen? Stellenabbau? Wer weiß!

"Machen Sie sich schonmal Sorgen, näheres später", das müsste eigentlich in der Einladung stehen. Die gleiche Taktik gibt’s auch in Liebesbeziehungen, ausgeübt im populären Dialog: "Schatz, ist was?" - "NICHTS!!!" Das ist psychische Gewalt. Sowas gehört nicht in die Liebe. Und auch nicht ins Büro.

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100 Sekunden Leben
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100 Sekunden Leben

Doris Anselm, Thomas Hollmann, Wlada Kolosowa, Sebastian Schiller, Hendrik Schröder und Ebru Taşdemir betrachten mit einem schrägen Seitenblick Phänomene aus ihrem analogen und virtuellen Leben.