100 Sekunden Leben - Erst die Arbeit, dann … die Arbeit
Lässt sich Motivation gezielt herstellen? Eine ganze Coaching-Branche lebt davon, und Motivations-Sprüche sind beliebt in den sozialen Medien. Inforadio-Kolumnistin Doris Anselm fragt sich: Ist das neu – oder haben sich die Leute schon immer gut zugeredet für die Arbeit?
Wenn man manche Leute so reden hört (oder vielmehr: wenn man manche Leute so posten sieht), könnte man meinen, Arbeit wäre ein spirituelles Selbstfindungs-Retreat. Da werde ich schnell misstrauisch, vor allem, wenn die Motivationssprüche von oben kommen, also von Arbeitgebern als Meme verschickt oder als Poster aufgehängt werden.
Verschneite Berggipfel, gewundene Wanderwege und besonders hoch fliegende Möwen haben für mich außerhalb der Tourismusbranche im Büro nichts verloren. Auch nicht, wenn da Sachen draufstehen wie "Du kannst die Zukunft verändern mit dem, was du heute tust", während die Mitarbeiter sich wie machtlose Rädchen im Getriebe fühlen.
Ein Gefühl, aus dem sich eine ganze Gegenkultur von Anti-Motivationssprüchen entwickelt hat, mehr oder weniger lustig. "Ich gebe 100 Prozent bei der Arbeit: montags 9 Prozent, dienstags 23 …", sowas eben. Irgendwie waren die Sprüche meiner Elterngeneration da ehrlicher. "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen", oder "Je eher daran, desto eher davon". Da wird wenigstens nichts beschönigt.
Aber leider passen die Sprüche nicht mehr auf die heutige, entgrenzte Arbeitswelt, wo man um 0:34 Uhr wunderbar noch E-Mails checken kann. Auch fies: Der Spruch "Kein Gang mit leeren Händen"! Was auf der Baustelle vielleicht nützlich ist, wird für Denkarbeiter schnell zu "Kein Gang mit leerem Kopf", und damit ist der Burnout schon programmiert.
Warum gibt es nicht mehr Motivationssprüche, die Leute von irgendwas abhalten? Wilder Aktionismus erzeugt nachweislich mehr Probleme als Faulheit. Also, liebe Arbeitgeber, bitte denkt gerade in Zeiten des Fachkräftemangels an die uralte Weisheit: Wer schläft, kündigt nicht.