Rio Reiser singt bei einem Konzert in Berlin.
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100 Sekunden Leben - Welttag der Poesie

Am Donnerstag ist der "Welttag der Poesie". Die Unesco hat den 21. März zum lyrischen Feiertag erhoben, um an die "Vielfalt des Kulturguts Sprache" zu erinnern. Unser Kolumnist sieht sich als verhinderter Dichter und feiert da gerne mit. Von Thomas Hollmann

Ich würde gerne mal ein Gedicht schreiben, aber ich trau’ mich nicht. Ich habe Angst, dass sich mein Gedicht lächerlich anhört. Oder übertrieben. Oder belanglos. Das geht schnell: Ein falsches Wort - oder eines zu viel - und das Gedicht ist versaut. Bei einer Kolumne ist das anders. Da darf man auch mal einen langweiligen Satz sagen, solange der danach witzig ist. Das ist der Unterschied: Bei einem Gedicht muss jede Silbe sitzen.

Ein Gedicht ist so unbestechlich. So reduziert. Wie eine Sauce, die sehr lange einkocht und von der nur wenige Wörter übrigbleiben. Aber diese Wörter sind gar nicht entscheidend. Entscheidend sind all die anderen Wörter, die eingekochten, die da nicht stehen, die man aber mitdenkt. Denn ein Gedicht hört nicht auf, wenn es zu Ende ist; ein gutes Gedicht schmeckt nach.

Leider kann ich mir keine Gedichte merken. Nur eines - und das ist ein Lied:

Die Welt schaut rauf zu meinem Fenster,
Mit müden Augen ganz staubig und scheu
Ich bin hier oben auf meiner Wolke,
Ich seh dich kommen, aber du gehst vorbei

Richtig: "Junimond" von Rio Reiser. Das habe ich damals sehr häufig gesungen. Und mit Musik bleibt’s bei mir wohl besser hängen.

Doch jetzt tut’s nicht mehr weh,
Nee, jetzt tut’s nicht mehr weh,
Und alles bleibt stumm und kein Sturm kommt auf,
wenn ich dich seh‘

Liedtexte können auch schöne Gedichte sein. Deshalb hat Bob Dylan den Literaturnobelpreis bekommen. Dass die Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität Campino von den Toten Hosen jetzt als Gastprofessor eingeladen hat, um einen Vortrag zum Thema "Gebrauchslyrik" zu halten, halte ich dagegen für sehr prosaisch. Campino ist kein Dichter, Campino ist ein Schreihals.

Ich vermute, Rio Reiser würde das ebenso sehen. Und die Herren Goethe und Ringelnatz, von denen mir gerade wieder nichts einfallen will, ebenso.

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100 Sekunden Leben
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100 Sekunden Leben

Doris Anselm, Thomas Hollmann, Wlada Kolosowa, Sebastian Schiller, Hendrik Schröder und Ebru Taşdemir betrachten mit einem schrägen Seitenblick Phänomene aus ihrem analogen und virtuellen Leben.