100 Sekunden Leben - Treue Freunde auf vier Rollen
Berlin ist eine Hundestadt – nach wie vor. Mehr als 124.000 dieser Vierbeiner leben in der Metropole. Kolumnistin Doris Anselm hat keinen Hund. Wozu auch? Schließlich besitzt sie einen Rollkoffer.
Oskar hat sich mal wieder selbständig gemacht. Keine Sekunde kann ich ihn in der S-Bahn aus den Augen lassen. Ganz kurz hab’ ich mich auf dem Weg zum Hauptbahnhof in Reisegedanken verloren, da schubbert Oskar sich schon an einer älteren Dame. Die zieht indigniert ihr Bein zurück. Mit aller Autorität, die ich in meine Stimme legen kann, rufe ich: "Oskar, aus!" Doch der kleine Vierroller hört natürlich nicht. Die alte Dame aber grinst.
Dann sage ich noch den Universalsatz, den Satz, den ich mir selbst wohl schon fünfzig Mal anhören musste – wann immer mir ein fremder Hund zu nahe kam. "Der tut nichts, der will nur spielen", sage ich, und die Dame fängt tatsächlich an zu lachen. Mit strengem Blick ergreife ich Oskars Teleskopgriff und ziehe ihn bei Fuß. Einen Klaps auf seinen Reißverschluss verbiete ich mir – er muss mich auch ohne Gewalt als Rudelchefin akzeptieren.
Ja, so läuft das, wenn mein Rollkoffer und ich auf Reisen gehen. Ich weiß nicht, wann ich angefangen habe, ihn zu personifizieren, beziehungsweise zu animalisieren. Jedenfalls macht es das Reisen um einiges lustiger. Wenn mir zum Beispiel ein freundlicher Mann helfen will, Oskar in die Gepäckablage hochzuwuchten, lehne ich dankend ab. Stattdessen deute ich mit dem Finger nach oben, schaue den Koffer aufmunternd an und rufe: "Oskar, hopp! Nu komm! Hoch!"
Naja, ich gebe zu, meist spiele ich solche Szenen nur in meinem Kopf durch. Es gibt aber doch auffällige Parallelen. In Berlin sind vermutlich ungefähr genauso viele Leute genervt von kläffenden Hunden wie von ratternden Rollkoffern. Andererseits: Wenn viele Arbeitgeber inzwischen Bürohunde erlauben, wer weiß, dann gibt es bald vielleicht auch endlich ein Auslaufgebiet für Oskar.