100 Sekunden Leben - Der Kassierer ist König
Unser Kolumnist Thomas Hollmann wartet beim Einkaufen immer häufiger an der Kasse. Und er glaubt, das ist ein epochaler Trend.
Beim ersten Mal dachte ich, der Mann ist auf der Toilette oder er räumt gerade Regale ein. So etwas kommt ja vor in einem Supermarkt. Aber dann war der Typ auch schon wieder da und setzte sich hinter die Kasse. Beim nächsten Mal war die Schlange allerdings schon recht lang, dass ich mir gar nicht vorstellen mochte, was der Mensch gerade macht. Meine Frage, ob jemand nach dem Kassierer gerufen habe, wurde von den Wartenden verneint. Die standen einfach da. Bio-Supermarkt-Kunden sind offensichtlich geduldige Menschen.
Ich bin das allerdings nicht. Also habe ich mich auf die Suche nach dem Kassierer gemacht und war überrascht, in all den Regalgängen keinen einzigen Mitarbeiter zu sehen. Aber ich hörte doch Stimmen. Tatsächlich, hinter der Brottheke standen sie, sechs Leute in ihren grünen Dienstpullis und berieten, was sie denn am Wochenende machen könnten.
Ob vielleicht jemand zur Kasse kommen könne, fragte ich. Offensichtlich zu leise. Denn niemand reagierte. Also stellte ich die Frage lauter. Diese Blicke hätten Sie sehen müssen! Das waren Voodoo-Blitze! Der Kassierer ist dann aber immerhin doch zu seinem Arbeitsplatz zurückgeschlurft.
Vielleicht ist das ja eine spezielle Bio-Supermarkt-Kundenfeindlichkeit, dachte ich da. Aber tags drauf wurde ich in einen Nicht-Bio-Supermarkt dumm dastehen gelassen. Die beiden Frauen an der Kasse mussten sich erst noch ihre Urlaubsfotos auf dem Handy zeigen.
Ich vermute, wir erleben gerade nichts Geringeres als einen Epochenwechsel. Die Zeiten, als der Kunde König war, sind jedenfalls vorbei. Die Kassiererinnen sind die neuen Regentinnen. Aber betteln, nein, betteln werde ich nicht, um meine Milch bezahlen zu dürfen. Da klau’ ich sie lieber. Vielleicht ist das ja die Lösung gegen den Fachkräftemangel: Diebstahl.