100 Sekunden Leben - "Senior! Ich beglaubige es!"
Es gibt wohl wenig Peinlicheres, als wenn Erwachsene versuchen, Jugendsprache zu sprechen. Leider findet aber Inforadio-Kolumnistin Doris Anselm diesen Jargon extrem amüsant. Was tun? Vielleicht hilft ja die gepflegte Rück-Übersetzung.
Ich habe jetzt endlich eine Möglichkeit gefunden, wie ich über Jugendsprache schreiben kann und trotzdem altersmäßig "bei meinen Leisten bleibe", wie man in meinem Alter so sagt. Der Trick: Sobald ich Jugendliche reden höre, übersetze ich mir den Jargon Wort für Wort in ein möglichst gestelztes Erwachsenen-Sprech. So wird zum Beispiel die gängige Anrede "Alter" in meinem Kopf zum respektvollen "Senior". Die Grußformel "Ey, Dicker" übersetze ich mit "Guten Tag, mein vollschlanker Freund". Und so weiter.
Am meisten Spaß macht das bei männlichen Jugendlichen, die in Gruppen unterwegs sind und dem Vernehmen nach viel Wert auf Ehre legen. Neulich traf ich im Supermarkt ein paar solcher Ehrenmänner. In ihren glatten 13-jährigen Gesichtern schimmerten noch die Rehaugen der Kindheit, besonders feucht bei einem, der gerade den ersten Liebeskummer durchmachte. Diese Tatsache bestritten alle zusammen mit einer schockierenden Drastik im Umgangston. Ihr Gespräch über das kummerauslösende Mädchen kann ich nur dank meines Übersetzungstricks hier im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wiedergeben. "Senior!", rief ein Freund des leidenden Jungen erschüttert, "Senior! Ich beglaubige es! Sie ist ein weibliches Geschlechtsteil!" Man stimmte ihm zu, und ein anderer fuhr fort: "Guten Tag, mein vollschlanker Freund, ich habe Gewissheit: Sie ist eine Prostituierte!"
Leise ging ich an den Gentlemen vorbei zur Kasse. Ich stellte mir vor, wie wohl die Freundinnen des Mädchens ihre Sicht der Dinge ausdrücken würden – übersetzt. Vermutlich rieten sie ihrer Kameradin, sie solle sich mal gut gekühlt halten, denn der Junge sei nichts als ein Hinterteil, oder aber er fröne dem Laster der Selbstbefleckung. Naja, das tun bekanntlich auch Ehrenmänner. Und -frauen.