100 Sekunden Leben - Ich werd’ dich vermissen – wie heißt du nochmal?
Die Herzlichkeit von Berlinern zeigt sich nur ganz subtil – wenn überhaupt. Umso tiefer reicht sie manchmal. rbb24 Inforadio-Kolumnistin Doris Anselm ist überrascht, dass sie nach 15 Jahren Berlin offenbar selbst genau diese Eigenart angenommen hat.
Neulich war ich tagelang schlecht gelaunt und hatte keine Ahnung, warum. Der Grund wurde mir erst klar, als der Umzugswagen wegfuhr. Es war nicht mein Umzugswagen. Auch nicht der eines mir nahestehenden Menschen. Es war der Umzugswagen der Familie, die jahrelang im Haus nebenan gewohnt hatte, Namen habe ich vergessen. Der Vater war Amerikaner (oder Ire?), die Mutter Deutsche, und dann hatten sie noch zwei kleine Mädchen, die ich immer verwechselte.
So viel zu unserer nachbarschaftlichen Bindung: nicht sehr tief. Wir haben höchstens mal ein Paket füreinander angenommen und im Hof drei Worte gewechselt. Der Hund der Familie – stimmt, den gab’s ja auch – kläffte mich nach Jahren immer noch an, als wär’ ich eine völlig Fremde. Womit er im Prinzip Recht hatte. Aber die Pakete wurden stets mit einem Lächeln überreicht, und die drei Worte im Hof hatten diese subtile Wärme, die man nur nach langer Zeit in Berlin überhaupt spüren kann. Naja, vielleicht befähigt mich auch meine norddeutsche Herkunft dazu.
Jedenfalls: In einem dieser kurzen Wortwechsel erfuhr ich, dass die Familie wegziehen würde. Und viel mehr als ein lahmes "Ach schade, aber alles Gute!" habe ich dazu nicht von mir gegeben, glaub’ ich. Doch als der Umzugswagen wegfuhr, erfasste mich eine Welle von etwas, das ich in anderem Kontext glatt als Liebeskummer interpretiert hätte. Ich vermisste sogar die Schaukel, die einst für die Mädchen an einen Baum im Hof gehängt und als letzte Amtshandlung der Familie abgenommen worden war. Was für ein kitschiges Bild. Ich kann nur sagen: Die Nachmieter werden es schwer mit mir haben. Sie werden nicht wissen, warum – und wahrscheinlich halten sie es für ganz normale Berliner Muffigkeit.