100 Sekunden Leben - Und irgendwann steht der Pfosten im Weg
Ältere Autofahrer müssen in Deutschland ihre Fahrtüchtigkeit wohl auch weiterhin nicht unter Beweis stellen. Die Alten könnten ihre Fahrtüchtigkeit selbst einschätzen, meint Verkehrsminister Wissing. Unser Kolumnist Thomas Hollmann ist da anderer Auffassung.
Mein Vater war ein leidenschaftlicher Autofahrer und stolz auf seine Steuerkünste. Seinen Wagen lenkte er bundesrepublikanisch selbstbewusst, aber nicht waghalsig über Autobahnen und westfälische Landstraßen. Von Unfällen ist mir nichts bekannt. So dass ich sagen würde: Mein Vater war ein guter Autofahrer.
Bis er alt wurde. Da entdeckte ich während eines Heimatbesuches beifahrerseitig große, lange Kratzer. Die Ausfahrt sei viel zu schmal und der Pfosten stehe im Weg, hieß es zur Erklärung. Bei der Ausfahrt handelte es sich um jene, die mein Vater 50 Jahre lang herausgefahren war, ohne einmal am Pfosten lang zu schaben. Was jetzt offensichtlich regelmäßig passierte.
Meine Frage, ob seine Navigationsfähigkeiten möglicherweise nachgelassen haben, provozierte einen lauten Protestschwall. Und da hat der Bundesverkehrsminister recht: Das wäre unnötige Bürokratie gewesen, meinen Vater zu einer Selbstauskunft zu verpflichten. Natürlich hätte er sich als vollständig fahrtüchtig erklärt.
Sofern er das Formular verstanden hätte. Denn wenig später setzte die Demenz ein. Den Edeka fand er trotzdem noch, mit dem Auto. Die Frau vom Pflegedienst, die meine Mutter versorgte, vertraute mir damals an: Wenn sie den Wagen meines Vaters in der Stadt sieht, biegt sie ab und fährt woanders lang. Mit meinem Vater auf derselben Straße, das war ihr zu gefährlich.
Am Ende ist mein Vater im Bett gestorben – und nicht hinterm Steuer. Aber das war reines Glück. Auch dass dabei niemand anderes ums Leben kam. Und auf Glück, meine ich, sollte die deutsche Verkehrspolitik nicht zu sehr setzen.