100 Sekunden Leben - Der defekte Prokrastinator
Kolumnistin Doris Anselm hat bei Freunden versehentlich etwas kaputtgemacht. Vielleicht aber auch nicht. Denn das betroffene Gerät und seine Funktionsweise sind ziemlich mysteriös.
Seit einer Woche bin ich wegen Baulärm tagsüber bei Freunden in einem freien WG-Zimmer. Es ist sehr schön. Die Mitbewohnerinnen sind unterwegs, und ich trödele mehr herum als ich arbeite – irgendwie hat die Wohnung so eine gelassene Atmosphäre.
Nur vorgestern nahm ich die Kurve zur Küche wohl ein wenig zu schwungvoll. Prompt riss ich mit der Schulter etwas von der Wand, das polternd zu Boden fiel. Ich verfluchte mich und hob es auf. Es war ein goldener Bilderrahmen, darin aber kein Bild, zum Glück auch kein Glas, sondern eine, ich möchte sagen: Benutzeroberfläche. Aus der ragte eine einzige, echte Computertaste hervor: die Escape-Taste. Darüber stand ein Text:
"Prokrastinator – Anleitung zur Benutzung. 1. Der*die Benutzer*in stellt sich vor den Prokrastinator. 2. Er*sie denkt an die Situation, die Aufgabe, das Objekt, das Gefühl oder den Menschen, welchen sie*er prokrastinieren möchte. 3. Er*sie legt den Finger auf die Taste, schließt die Augen und träumt, solange sie*er will."
Ich aber träumte nicht. Ich hängte den Prokrastinator wieder an Ort und Stelle. Er sah unversehrt aus. Dann ging ich ins Zimmer und an meine Arbeit. Ich kam gut voran – und das hätte mich stutzig machen müssen. Gestern früh dann, bevor ich zur WG aufbrach, putzte ich noch schnell meine Wohnung, was ich seit Wochen vor mir hergeschoben hatte.
Nach und nach beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Was, wenn der Prokrastinator, dieses metaphysische High-Tech-Gerät, bei dem Sturz doch Schaden genommen hatte, und zwar ernsthaft? Was, wenn er in der WG jetzt laufend das Gegenteil auslöste von Träumen, Trödeln und Gelassenheit?
Ich habe den Mitbewohnerinnen eine Nachricht dazu geschickt. Bisher hat sich niemand zurückgemeldet. Das gibt mir Hoffnung. Denn vielleicht haben sie das Antworten einfach nur prokrastiniert.