100 Sekunden Leben - Der Aquadom und die Materialermüdung
Es ist noch immer nicht geklärt, warum am Freitag der Aquadom geplatzt ist. Die Ursachenforschung läuft. Unser Kolumnist Thomas Hollmann hätte nichts dagegen, wenn das Riesenaquarium aus Materialermüdung nachgegeben hätte.
Iris Spranger, die für das Berliner Innere und nach außen geschwemmte Fische zuständige Senatorin, hatte noch am Unglücksmorgen erklärt: Erste Anzeichen deuteten auf eine Materialermüdung hin.
Der Leiter des Institutes für Kunststofftechnik in Stuttgart erwiderte jedoch, von Materialermüdung spreche man bei Kunststoffen nur, wenn sie hin und her bewegt werden. Im vorliegenden Falle müsse man von "Alterung" sprechen. Die funktioniere bei Acrylglas ähnlich wie beim Menschen: Molekülketten brechen auseinander.
Werde ich eines Tages auch platzen und mich über die Straße ergießen? Und kommt dann nur die Feuerwehr oder auch die Politik? Nein, Alterung ist perspektivisch wenig erbaulich. Da ziehe ich die Materialermüdung vor. Auch wenn sie kunststofftechnisch auf wackeligen Füßen steht. Aber die Materialermüdung ist nicht so ausweglos. War doch jeder schon mal müde, ohne gleich um Jahre zu altern.
Vor allem aber verbindet die Materialermüdung zwei Wesenszüge, die in keiner anderen Sprache zusammengedacht werden: das exakt Bemessene und Festgelegte, von TÜV und DIN, das überraschenderweise dann doch mental erschlaffen und am Ende sogar lebensmüde werden kann. Wie Kleist seinerzeit. Der ist auch ins Berliner Wasser gegangen. Die deutsche Romantik und das deutsche Ingenieurwesen in einem Wort und Aufwasch: Materialermüdung. Welch ein Gedicht!
Ich hoffe nur, der Fischzylinder ist nicht geplatzt, weil ein Junge aus Jux ein Feuerzeug drangehalten hat oder er mal sein Taschenmesser ausprobieren wollte. Das wäre nun wirklich zu banal – auch sprachlich. Wobei "Lausbubenstreich" an sich auch ein schönes Wort ist