Interview - Kriminologe: Soziale Lage entscheidet, wer Täter wird
Laut der aktuellen polizeilichen Kriminalstatistik haben 41 Prozent der Verdächtigen keinen deutschen Pass, obwohl Ausländer nur 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Warum die Zahlen trotzdem nicht darauf schließen lassen, dass Nicht-Deutsche per se häufiger kriminell sind, erklärt der Kriminologe Tobias Singelnstein.
Für die Opposition im Bundestag ist die Begrenzung der Migration eines der wichtigsten Themen. Die am Dienstag vorgestellte Polizeiliche Kriminalstatistik 2023 liefert ihnen willkommene Argumente: Demnach sind 41 Prozent der erfassten Tatverdächtigen keine deutschen Staatsbürger.
Dieser Anteil kann jedoch nicht direkt auf die 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ohne deutschen Pass übertragen werden, betont der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Goethe-Universität Frankfurt. "Polizeilich erfasst werden können auch Personen, die in der Bevölkerungsstatistik gar nicht vorkommen - also zum Beispiel Touristen, Pendler [...] oder Menschen, die nach Deutschland kommen, um Straftaten zu begehen", sagt der Professor.
Singelnstein: Debatte um Ausländerkriminalität ist Teil des Problems
Auch wenn man diese Faktoren herausrechne, bleibe die Gruppe der Ausländerinnen und Ausländer wahrscheinlich trotzdem überrepräsentiert, doch auch dafür gebe es Gründe: Einerseits gebe es bestimmte Delikte - etwa beim Aufenthaltsrecht - die nur Nicht-Deutsche begehen könnten. "Zweitens wissen wir aus der Forschung, dass Menschen, die als fremd aussehend wahrgenommen werden, einem anderen Verfolgungsdruck [...] unterliegen, also häufiger angezeigt werden", sagt Singelnstein. "Und drittens vereint diese Kategorie der Nicht-Deutschen sehr viele sehr unterschiedliche Menschen, die praktisch nichts miteinander zu tun haben, außer, dass sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben."
Deswegen sei die Frage der Staatsbürgerschaft keine wirklich sinnvolle Kategorie bei der Analyse der Kriminalstatistik, meint Singelnstein. Die soziale Lage, in der Menschen lebten und aufgewachsen seien, spiele die wichtigste Rolle dabei, ob sie Straftaten begingen. "Das ist eigentlich das entscheidende Kriterium, nicht die Herkunft oder die Staatsbürgerschaft", so der Kriminologe. Für Singelnstein ist die Debatte um Ausländerkriminalität eher Teil des Problems als Teil der Lösung: "Weil sie nämlich für Stigmatisierung und für Ausgrenzung sorgt und deshalb auch der Integration im Wege steht."