Interview - Geflüchtete in Europa: "Kernproblem der Solidarität"
Noch immer hat die Europäische Union keine Strategie im Umgang mit Geflüchteten. Im Moment entstehe der falsche Eindruck, dass die großen Herausforderungen bei der Aufnahme der Menschen in Italien lägen, sagt der Migrationsforscher Gerald Knaus. Das wahre Problem bestehe darin, dass einige Staaten geltendes Recht umgingen.
Der Umgang mit geflüchteten Menschen ist eine der größten ungelösten Herausforderungen der Europäischen Union. Die Mitgliedsstaaten konnten sich beim Thema bisher nicht einigen, die von vielen Seiten dringend beschworene gerechte Verteilung von Menschen gibt es noch immer nicht.
Zudem kursierten teils falsche Vorstellungen darüber, wo die größten Probleme liegen, sagt der Migrationsforscher Gerald Knaus. "Wir haben derzeit fälschlicherweise den Eindruck, dass die größte Herausforderung bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Italien besteht", so der Vorsitzende der Denkfabrik "Europäischen Stabilitätsinitiative". Die Zahlen zeigten jedoch ein anderes Bild: Italien habe im letzten Jahr 26 000 Menschen Schutz gewährt. "In Deutschland war es fünfmal mehr", betont Knaus. "Italien hat ein Zehntel der ukrainischen Flüchtlinge, die Polen aufgenommen hat."
Knaus: Mitgliedsstaaten setzen Asylrecht aus
Der Angriff auf die Ukraine habe die größte Fluchtbewegung in Europa seit 1949 ausgelöst, betont Knaus. Das erkläre die aktuellen Herausforderungen der Kommunen. "Deutschland hat objektiv noch nie so vielen Menschen Schutz gewähren müssen wie im letzten Jahr." In dieser historischen Situation sei die Belastung verständlicherweise größer als in den Jahren zuvor.
Der Europäischen Union attestiert Knaus ein "Kernproblem der Solidarität". Einige Staaten setzten sich über geltendes Recht hinweg. Ungarn etwa setze das Asylrecht einfach aus. "Wenn in einem offenen Europa mit offenen Grenzen manche Staaten Flüchtlinge oder Asyslsuchende so behandlen, dass es dem Gesetz offen widerspricht, dafür aber nicht zur Verantwortung gezogen werden, dann ziehen die Menschen natürlich weiter in die Länder, wo sie im Einklang mit dem Recht menschenwürdig behandelt werden."