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Der 20-jährige Militäreinsatz in Afghanistan endete in einem Desaster. Die Tragödie, die man nun erlebe, sei nicht die Folge des Einsatzes, sondern des Rückzugs, sagt der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani. Der Westen habe sich damit auch massiv selbst geschadet.
Der Westen habe seine Versprechen von Demokratie, Freiheit und Wiederaufbau an das afghanische Volk gebrochen, sagt der Publizist. Diejenigen, die sich dort am meisten engagiert hätten, etwa für Frauenrechte und Demokratie, stünden nun vor dem Nichts. In den letzten Jahren sei vieles erreicht worden. "Das, was geschen ist, ist dann mit einem Schlag zunichte gemacht worden durch diesen übereilten, unkoordinierten Abzug und durch das Abkommen mit den Taliban", sagt Kermani.
Die Art und Weise des Wiederaufbaus sei zum Scheitern verurteilt gewesen, weil man zum Großteil westliche Unternehmen damit beauftragt habe, anstatt die Wirtschaft im Land zu fördern. Dabei sei ein Großteil der Hilfsgelder in Form von Löhnen wieder in den Westen zurückgeflossen, so Kermani.
Katastrophe ist nicht Folge des Einsatzes, sondern de Rückzugs
Trotzdem sei es notwendig gewesen, dass der Westen in Afghanistan interveniert hat. Im Bildungswesen, bei der Frauenförderung und der Freiheit der Presse habe es durch den Einsatz viele Erfolge gegeben. "Was jetzt passiert, sind ja nicht die Folgen unseres Engagements, sondern wir erleben die Folgen unseres Rückzugs", sagt Kermani.
Das größte Risiko bestehe darin, dass das Land nun wieder im Chaos versinke und von lokalen Warlords und Drogenbaronen kontrolliert werde. Kermani bezweifelt, dass die Taliban in ganz Afghanistan die Kontrolle halten können. Es sei auch wahrscheinlich, dass das Land wieder zum Ausbildungsort für islamistische Terroristen werde.
Großer Schaden auch für den Westen
"Was wir da jetzt im Augenblick tun in Afghanistan, das wird uns selbst massiv schaden", sagt Kermani. "Unsere Jugendlichen werden billiger Drogen bekommen, Afghanistan wird ein Quellgebiet von massiven Fluchtbewegungen sein, es wird ein Rückzugsort für Terroristen sein."
Zudem sei Afghanistan von großer strategischer Bedeutung im Dreieck der Mächte Russland, China und Iran und verfüge über große Bodenschätze. "Man kann davon ausgehen, dass die Chinesen jetzt versuchen, zusammen mit den Taliban das Land zu befrieden, um an diese Bodenschätze zu gelangen", so Kermani. Ob dies gelinge, sei allerdings unklar.
Engagement des Westens in der Welt wichtig
Dass der Westen aus der Katastrophe in Afghanistan lernen werde, hält der Orientalist für unwahrscheinlich. "Wir ziehen aus den falschen Interventionen wie im Irak oder in Libyen nicht die richtigen Lehren, sondern wir ziehen daraus die Lehre, als müssten wir uns gar nicht mehr kümmern", sagt Kermani. Diese Annahme sei falsch. "Natürlich müssen wir uns engagieren, natürlich müssen wir eintreten für stabile Verhältnisse - nicht jedes Mal für die große Demokratie, aber zumindest für Stabilität, halbwegs für Ordnung - und wenn wir uns nicht engagieren, dann werden andere sich über unsere Köpfe hinweg engagieren und zwar Staaten, die weder der Bevölkerung wohlgesonnen sind noch wollen, dass es uns gut geht", sagt Kermani.