"Kriminalitätsbelasteter Ort" & hipper Kunst-Treff -
Auf den Punkt: Die Potsdamer Straße
Die Potsdamer Straße: über zwei Kilometer lang, vom Potsdamer Platz im Norden bis zum Heinrich-von-Kleist-Park im Süden. Zwischen Gleisdreieck und Nollendorfplatz leben dort geschätzt 20.000 Menschen. Die "Potse" steht für soziale Gegensätze auf engem Raum. Ein Überblick.
Mehr als die Hälfte der Menschen in der Potsdamer Straße haben Migrationshintergrund, etwa ein Drittel keinen deutschen Pass. Deutlich mehr als im Berliner Durchschnitt. Bei der Bundestagswahl ist hier die Linke stärkste Partei geworden.
Zwei Fahrspuren, zwei Busspuren, hier und da Bäume an Straßenrand. Bis zu 30.000 Fahrzeuge quälen sich hier jeden Tag vorbei – ungefähr so viele wie vor dem Brandenburger Tor. Richtung Süden werden es noch deutlich mehr. Das belastet auch die Luft: Wie an vielen Orten in Berlin liegen hier die Stickoxid-Werte über dem gesetzlichen Grenzwert. Das zeigten Messungen von rbb, TU und dem Land Berlin.
Das Gebiet vom Bülowbogen Richtung Nollendorfplatz gilt bei der Polizei als „kriminalitätsbelasteter Ort“. Dort darf die Polizei ohne Verdacht Identitäten überprüfen und Personen durchsuchen.
Das scheint die Touristen der Gegend wenig zu stören: Unmengen an Wohnungen lassen sich hier über Airbnb mieten, und zwar zu jedem erdenklichen Preis: Von 9 Euro pro Nacht bis über 600, oft innerhalb des gleichen Blocks.
Die Potsdamer Straße ist in den letzten Jahren aber auch zum hippen Kunst-Treff geworden. Zumindest ihre nördliche Hälfte: Auf dem Kilometer vom Schöneberger Ufer bis zur Ecke Kurfürstenstraße sind 17 Galerien und Ateliers - laut Empfehlungsportal Yelp (siehe Karte!) Neben schicken Restaurants.
Insgesamt finden sich an dem Straßenzug 15 Bars und Kneipen, 11 Ärzte, 4 Dönerläden, 3 Spätis. Und in diesen Tagen: Ein Ü-Wagen vom Inforadio.
Zahlen, Daten, Fakten
Einwohner
• Etwa 20.000 Leute leben rund um die Potsdamer Straße: Zwischen Nollendorfplatz und Gleisdreieck, zwischen Schöneberger Ufer und Heinrich-von-Kleist-Park.
• Sie sind nicht besonders alt oder besonders jung, nicht besonders männlich oder weiblich.
• Mehr als die Hälfte der Bewohner haben einen Migrationshintergrund, etwa ein Drittel sind Ausländer. Das sind deutlich mehr als im Berliner Durchschnitt (70% Deutsche ohne Migrationshintergrund).
(Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg)
Politische Einstellung
• Die Potsdamer Straße ist eine linke Insel: Bei der Bundestagswahl wurde in den Wahlbüros dort die Linke die stärkste Kraft. Nur in der Körnerstraße, bei den Neubaugebieten am Gleisdreieck, waren die Grünen stärker.
• Nördlich der Bülowstraße beginnt CDU-Land, südlich der Goebenstraße und nach Osten Richtung Kreuzberg wählen die Menschen grün.
• Als „einfache“ bis „mittlere“ Wohnlage hat die Stadt die Gegend eingestuft. Das heißt im Klartext: Dicht bebaut, stellenweise ungepflegte Straßen. Hier steht alles von einfachen, unsanierten Betonbauten über Neubaugebiete bis hin zu hübschen Altbauten. Es gibt keine großen Grünflachen, aber eine gute ÖPNV -Anbindung und ein gutes Versorgungsangebot für den täglichen Bedarf.
• Das gilt auch für den Wedding, aber auch für hippe Bezirke wie Kreuzberg oder Neukölln.
• Die Potsdamer Straße liegt direkt an der Grenze zu feineren Gegenden. Nach Westen Richtung Wilmersdorf und Grunewald sowie nach Süden Richtung Steglitz liegen nur noch Häuser in „guter Wohnlage“.
• Auf Airbnb kann man hier reichlich Wohnungen mieten – und zwar zu jedem erdenklichen Preis: Von 9 Euro („Komfortabel eingerichtetes Einzimmerappartement“) bis zu über 600 Euro („old building art nouveau“) pro Nacht gibt es Angebote, oft innerhalb des gleichen Straßenzugs.
(Quelle: Airbnb, Stand 19.01.2018.)
Galerien
• Nördlich der Kurfürstenstraße erobern Kunstgalerien die Potsdamer Straße: Allein 17 sind es von dort bis hinauf zum Schöneberger Ufer. Südlich der Kurfürstenstraße hört die Galerienmeile jedoch schlagartig auf.
• Es ist eine der Straßen mit der größten Galeriedichte in ganz Berlin. Die Potsdamer Straße kann da durchaus mit der Gegend um den Savignyplatz mithalten oder mit der Auguststraße in Mitte.
• Viele davon haben erst in den letzten Jahren eröffnet.
(Quelle: Yelp.de, Stand 16.02.2018)
Verkehr
• 20.000 bis 30.000 Fahrzeuge fahren offiziellen Erhebungen zufolge jeden Tag durch die Potsdamer Straße. Das sind ungefähr so viele wie am Brandenburger Tor.
• Es gibt Gebiete in der Stadt, durch die mehr Autos fahren, aber die Potsdamer Straße gehört zu den viel befahrenen Straßen der Stadt.
• Richtung Süden, ab der Goebestraße, und Richtung Norden ab Schöneberger Ufer wird es mehr: 30.000 bis 40.000.
(Quelle: Verkehrszählung 2014, Umweltatlas)
Luftbelastung
• Die Stickoxid-Belastung liegt hier über dem Grenzwert von 40 µg/m3 Luft.
• An der Potsdamer Straße, Ecke Pohlstraße, hat der rbb zusammen mit der TU Berlin einen Wert von 48 µg/m3 Luft gemessen, an der Lützowstraße sind es 42 48 µg/m3.
• Diese Werte sind durchaus noch im Berliner Durchschnitt.
• Nach Norden hin werden die Werte besser, nach Süden steigt die Belastung: An der Haupstraße, Ecke Kaiser-Wilhelm-Platz, haben wir 66 µg/m3 gemessen.
• Das Gebiet um den Nollendorfer Platz bis zur Ecke Bülowstraße/Potsdamer Straße gilt als einer von zehn „kriminalitätsbelasteten Orten“ in Berlin, wo besonders schwere Straftaten begangen werden. An solchen Orten darf die Polizei ohne Verdacht Identitäten überprüfen und Personen durchsuchen.
• 133 Drogendelikte wurden dort 2016 gemeldet, 334 Taschendiebstähle und 218 Fälle von Körperverletzung. Das sind bei weitem nicht so viele wie am Alexanderplatz oder am Kotbusser Tor, reicht aber für die Einstufung als kriminalitätsbelasteter Ort.
• Besonders die Zahl der Drogendelikte und Diebstähle sind in den letzten Jahren stark angestiegen.
Es gibt schöne und liebliche Städte - und es gibt Berlin. Die Hauptstadt ist lebendig - und rau, häufig auch unwirtlich. Und das 24 Stunden: Tag und Nacht. Glamour trifft auf Ruppigkeit. Wie lebt es sich mit den Gegensätzen, wenn teure Eigentumswohnungen neben dem Sozialpalast gebaut werden, die Bar für Sportwetten neben der Kunstgalerie ist? Wie viel Schick verträgt die Stadt - und wie viel Freiheit?
Wir müssen reden! Über das raue Berlin. Deshalb war Inforadio in der Woche vom 26. Februar 2018 auf der Potsdamer Straße in Tiergarten und Schöneberg unterwegs. Wir haben geschaut, wie Obdachlose durch den Winter kommen. Wir haben gestritten über den Straßenstrich. Wir haben gefragt, wer sich die Miete noch leisten kann - und gestaunt über neuen Glanz und Wohlstand. Tag und Nacht waren unsere Reporter auf der Potsdamer unterwegs - online und im Inforadio.