Verfassungsreferendum in der Türkei -
Alle Macht für Erdogan?
In der Türkei wird am Ostersonntag über eine Verfassungsänderung abgestimmt. Sie würde Präsident Erdogan mehr Macht geben. In Deutschland und anderen Ländern haben schon mehr als 900.000 Auslandstürken abgestimmt. Sie könnten das Zünglein an der Waage werden.
Die umstrittene Abstimmung in ihrer Heimat hat auch die Türken in Deutschland mobilisiert. Sie konnten zwei Wochen lang bis zum Sonntagabend über das umstrittene Präsidialsystem abstimmen, das Staatschef Recep Tayyip Erdogan anstrebt.
Hohe Wahlbeteiligung
Bis zum Sonntagabend gaben 48,73 Prozent oder 696.863 der 1.430.127 in Deutschland registrierten türkischen Wähler ihre Stimme ab, wie die Wahlkommission in Ankara am Montag auf dpa-Anfrage mitteilte.
Zum Vergleich: Bei der türkischen Parlamentswahl im November 2015 waren es knapp 41 Prozent gewesen. Am Sonntag bildeten sich vor den 13 Wahllokalen nochmals teilweise Schlangen.
In Berlin haben sich 43,4 Prozent der wahlberechtigten Türken an der Abstimmung beteiligt. Das teilte die zuständige Wahlkommission am Montag mit. Die Wahlbeteiligung lag mit mehr als 67 Prozent in Essen am höchsten, gefolgt von Düsseldorf mit 57 und Stuttgart mit 54 Prozent.
Die Türken in Deutschland konnten zwei Wochen lang bis zum Sonntagabend über das umstrittene Präsidialsystem abstimmen, das Staatschef Recep Tayyip Erdogan anstrebt. Es würde seine Macht deutlich stärken.
Karabörklü rechnet mit "Nein"
Der Vizechef der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Atila Karabörklü, rechnet damit, dass die Türken die von Präsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Verfassungsreform ablehnen. "Mein persönlicher Eindruck ist, dass es zu einem Nein kommt. In den Umfragen äußern sich viele Menschen nicht mutig und halten sich zurück, weil sie Angst haben und der Druck enorm ist. Deswegen sind die Umfragen aus meiner Sicht nicht so zuverlässig", sagte Karabörklü am Montag im Inforadio.
Was die Stimmen der Türken in Deutschland angeht, rechnet Karabörklü damit, dass Befürworter und Gegner etwa gleichauf liegen - "vielleicht mit ein bisschen mehr für Ja."
Verhältnis Türkei - Deutschland belastet
In der Türkei ist das Referendum für den 16. April (Ostersonntag) anberaumt. Verbote von Wahlkampfauftritten mehrerer türkischer Minister in Deutschland vor der Abstimmung belasten die Beziehungen zwischen Ankara und Berlin bis heute schwer. Dazu trugen auch provokante Nazi-Vergleiche Erdogans bei. Er warf selbst Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor, Terroristen zu unterstützen.
Welche Konsequenzen hätte ein JA für...
...Präsident Erdogan?
Erdogan würde so mächtig wie nie. Sobald die Verfassungsänderung mit der Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft tritt, fällt das Verbot für den Präsidenten, Mitglied einer Partei zu sein. Erdogan dürfte dann wieder AKP-Chef werden. Ansonsten wird die Reform schrittweise umgesetzt. Ihren Abschluss findet sie erst mit Parlaments- und Präsidentenwahlen, die für November 2019 geplant sind, aber vorgezogen werden können. Seine volle Machtfülle als Staats- und Regierungschef erhielte Erdogan erst nach einem Sieg bei dieser Wahl.
...die Opposition?
Für sie würde sich mit einem Ja beim Referendum eine lange Serie von Niederlagen fortsetzen. Durch den Zugewinn an Macht für den Präsidenten würde der Spielraum der ohnehin zahnlosen Opposition im Parlament noch weiter eingeschränkt. Die außerparlamentarische Opposition ist schon jetzt demoralisiert, der Ausnahmezustand verhindert Proteste weitgehend. Erdogan-Gegner befürchten, dass ihre Verfolgung noch zunehmen könnte.
...die türkische Wirtschaft?
Ein Ja beim Referendum würde zumindest kurzfristig politische Stabilität bedeuten. Für die Wirtschaft ist das immer gut. Ob die Türkei auch langfristig stabiler würde, ist aber offen. Erdogan hat zudem ein mögliches Ende des EU-Beitrittsprozesses nach einem Sieg beim Referendum ins Spiel gebracht. Zwar würde das nicht die aus ökonomischer Sicht wichtigere Zollunion mit der EU beenden. Für westliche Investoren wäre aber auch die politische Abkehr der Türkei von Europa keine vertrauensbildende Maßnahme.
...die Sicherheit im Land?
Die AKP-Regierung verspricht, dem Terrorismus würde ein Ende gesetzt, weil unter dem Präsidialsystem schneller und effektiver Entscheidungen getroffen werden können. Ob das aber wirklich zu einer Abnahme der Gewalt im Land führt, ist ungewiss. Die Opposition verweist darauf, dass es der AKP auch nach bald 15 Jahren an der Macht nicht gelungen ist, den Terrorismus auszumerzen - im Gegenteil: Seit Mitte 2015 eskaliert die Gewalt im Land.
...die NATO?
Für die Verteidigungsallianz ist es enorm wichtig, dass die Türkei ein verlässlicher Bündnispartner bleibt - vor allem, weil über das Land an der Schnittstelle zwischen Europa, Asien und Nahost zahlreiche Anti-Terror-Einsätze laufen. Wenn ein Ja beim Referendum zu mehr politischer Stabilität führt, kann das der Nato nur nutzen - zumindest dann, wenn es nicht zu einer dauerhaften Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien kommt. Letzteres könnte am Image der Nato kratzen.
...die Europäische Union?
Für die EU birgt ein Sieg von Erdogan zumindest Risiken. Sollte sich die Türkei nach der Verfassungsänderung weiter von europäischen Standards und Normen entfernen, könnte sie sich gezwungen sehen, die EU-Betrittverhandlungen einseitig abzubrechen. Dies wiederum könnte die Türkei zum Anlass nehmen, die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise einzuschränken.
...für die deutsch-türkischen Beziehungen?
Zumindest ist der Wahlkampf mit Nazi-Vergleichen vorerst vorbei. Die Beziehungen beider Länder würden sich aber trotzdem nicht verbessern. Von den deutschen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind Erdogans Verfassungspläne weit entfernt. Das würde das Verhältnis dauerhaft eintrüben und die Zusammenarbeit weiter erschweren.
Welche Konsequenzen hätte ein NEIN für...
...Präsident Erdogan?
Für ihn wäre ein Nein die schmerzlichste Niederlage seiner politischen Laufbahn. Allerdings bliebe er weiterhin Präsident, seine Amtszeit läuft bis 2019. Erdogans Kritiker befürchten, dass er eine Niederlage nicht kampflos hinnehmen würde. Spekuliert wird, dass er den Ausnahmezustand verlängern und Neuwahlen ausrufen könnte. Sollten die Oppositionsparteien MHP und HDP an der Zehnprozenthürde scheitern, wäre eine Zweidrittelmehrheit im Parlament für die AKP denkbar. Mit einer solchen Mehrheit könnte die Regierungspartei die Verfassungsreform auch ohne Volksabstimmung durchsetzen.
...die Opposition?
Die Dynamik, die eine Niederlage Erdogans entfalten würde, ist nicht absehbar. Sie wäre aber sicherlich gewaltig. Für die Opposition wäre ein Nein ein Befreiungsschlag, selbst wenn sich an den Machtverhältnissen dadurch zunächst nichts ändern würde. Das Image des unbesiegbaren Ausnahme-Politikers würde aber schweren Schaden nehmen. Womöglich würden sich dann auch derzeit noch stumme Kritiker in der AKP trauen, ihre Stimme gegen Erdogan zu erheben.
...die türkische Wirtschaft?
Bei einem Nein zum Präsidialsystem droht Instabilität - Gift für die Wirtschaft. Mögliche Neuwahlen würden die Unsicherheit noch einmal verlängern, es wären die fünften landesweiten Wahlen seit dem Frühjahr 2014. Welchen Kurs die Türkei danach nehmen würde, ist ungewiss - und aus Investoren-Sicht daher kaum kalkulierbar.
...die Sicherheit im Land?
Unmittelbar nach einem Nein beim Referendum wird befürchtet, dass sich die Wut seiner Anhänger auf der Straße entladen könnte. Unter Europäern in Metropolen wie Istanbul geht nach Erdogans Wahlkampf-Vorwürfen gegen Deutschland und andere EU-Staaten die Sorge um, dass sie im Fall seiner Niederlage zum Sündenbock gemacht werden könnten. Die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) könnten das nach einem Nein zu erwartende Chaos im Land und die Schwäche in der politischen Führung dazu nutzen, ihre Anschläge zu verstärken.
...die NATO?
Sollte ein Scheitern des Referendums zu anhaltender politischer Instabilität führen, wäre das aus militärischer Sicht schlecht. Die Türkei verfügt über die zweitgrößte Nato-Armee nach den USA. Zudem gilt sie als äußert wichtiger Partner im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS).
...die Europäische Union?
So sehr sich viele Pro-Europäer eine Niederlage Erdogans wünschen: Dass ein "Nein" der Türken sich positiv auf die zuletzt äußerst angespannten EU-Türkei-Beziehungen auswirkt, ist keineswegs sicher. In Brüssel dürfte ein Nein allerdings diejenigen bestätigen, die aus Rücksicht auf pro-europäische Oppositionskräfte in der Türkei an den Beitrittsverhandlungen mit dem Land festhalten wollen.
...die deutsch-türkischen Beziehungen?
Die Bundesregierung würde erst einmal aufatmen. Wie es dann in den Beziehungen weitergeht, hängt von der Reaktion Erdogans ab. Deutschland hat großes Interesse an einer schrittweisen Normalisierung. So richtig daran glauben mag in der Regierung im Moment aber kaum jemand. Dafür ist im Wahlkampf zu viel Porzellan zerschlagen worden.