Reportage Staaken - Soziale Gerechtigkeit wollen hier alle
Der Spandauer Ortsteil Staaken hat zwei Gesichter: Rund um die alte Dorfkirche stehen lauter Einfamilienhaussiedlungen, die Gegend nördlich der Heerstraße ist von Hochhäusern geprägt. Hierhin zieht es viele Menschen, die sich die Innenstadt nicht mehr leisten können. Alle eint: Sie fühlen sich nicht wahrgenommen. Sylvia Tiegs über den tiefen Westen Berlins:
Einfamilienhäuser gucken direkt auf Hochhaussiedlungen. Grüne Felder führen auf große, vielbefahrene Straßen. Flugzeuge lärmen überm Vogelgezwitscher: All das ist Staaken. Wer am westlichen Stadtrand nahe der alten Dorfkirche wohnt, genießt die fast ländliche Idylle. So wie der pensionierter Feuerwehrmann Hans-Joachim: "Ich bin hier geboren worden, fühle mich wunderbar. Es ist 'ne ruhige Gegend. Man kommt sich hier immer wie so 'ner kleinen, anderen Welt vor."
In dieser kleinen, anderen Welt rund um die Dorfkirche hat Staaken sich auch kaum verändert. Fünf Autominuten entfernt dagegen schon: in den Siedlungen entlang der Heerstraße. Zehn Kilometer lang, sechsspurig - sie die wichtigste Ein- und Ausfallroute zwischen Berlin-Charlottenburg und dem Havelland. Die Heerstraße durchschneidet Staaken wie ein Band.
Vor 30, 40 Jahren entstanden entlang der Heerstraße viele Hoch- und Einfamilienhäuser. In einem der Mehrgeschosser lebt seit Jahrzehnten Elke Heuer mit ihrem Mann. Sie ist 74, war Friseurin. Elke lebt sehr gerne hier, fühlt sich aber von der Politik vergessen: "Es lässt sich so überhaupt kein Politiker sehen", beklagt sie. "Nur wenn die Wahlen anstehen, dann sind sie überall an den Ecken und sprechen einen an. Und das finde ich schon ein bisschen komisch. Dann sollte man schon zwischendurch mal irgendeine Veranstaltung machen!"
Video: Tobias Goltz
Politik müsste sich mehr kümmern
Auf solchen Veranstaltungen würde Elke gerne mal über Integration in Staaken diskutieren - denn die klappt ihrer Meinung nach nicht mehr. Zu viele Mieter sprächen kein Deutsch, das Zusammenleben: schwierig. "Das Miteinander, was hier bei uns nicht mehr stattfindet", das beklagt sie besonders. "Gerade hier in Staaken, wenn man hier so lange wohnt. War mal alles anders! Und die Politik müsste da so ein bisschen mehr drum kümmern!"
Petra Sperling kann das nachvollziehen - sieht das Problem mit der Politik aber ein bisschen anders gelagert. Sperling ist Geschäftsführerin des Gemeinwesenvereins Heerstraße Nord - ein großer, wichtiger sozialer Anker im Staakener Hochhausviertel. Ihr Eindruck: "Viele Politiker sind auch häufig hier vor Ort. Ich denke aber, sie orientieren sich nicht wirklich an den Themen, die die Bürger, die sich 'abgehängt' fühlen, beschäftigen."
Und das wären, laut Petra Sperling: "In jedem Fall: Arbeit. Viele Menschen leiden darunter, dass sie keine Arbeit haben. Der zweite Punkt ist die Wohnungssituation." Die Mieten seien mittlerweile überteuert, es gebe keine Möglichkeiten, von einer größeren in eine kleine Wohnung umzuziehen. "Das dritte Thema sicher auch: Integration von Geflüchteten. Das macht einigen Bürgern natürlich auch Angst."
Das sehen in Staaken sogar Kinder von Zuwanderern so. Mohamed Zaidi ist 28 und Sohn tunesischer Eltern, zwischen Staakens Hochhäusern aufgewachsen und gerne in den Jugendclub des Gemeinwesenvereins gegangen. Er liebt sein Viertel. Er versteht aber auch die Entfremdung, die Nachbarin Elke empfindet: "Sehr viele Migranten sind hierher gezogen. Und wenn man dann alle aufeinander lässt, dann braucht man sich nicht wundern", so Mohamed.
"Manche Ältere haben halt Angst. Gerade in dieser Kultur, oder in dieser Zeit, in der wir jetzt leben. Man weiß ja nie, was passiert", sagt er und Elke nickt dabei bekräftigend mit dem Kopf: "Ja, stimmt! Da hat er Recht! Mich stört es nicht, dass es viele sind – nur … ja, es ist wahrscheinlich sehr schwer für diese Leute, sich hier zu integrieren." Die Stadt mache das einfach nicht richtig. "Und das ist der Fehler!"
Frauen mit Kindern werden an den Rand gedrängt
Ein Fehler, für dessen Lösung Elke und Mohamed ganz praktische Ansätze hätten: Deutsche Hausordnungen in fremden Sprachen verteilen, schlägt Elke vor - dann wüssten Zuwanderer, wie sie sich verhalten sollten. Mohamed wünscht sich viel mehr Sprach- und Integrationskurse für fremde Zuzügler.
Ein weiteres Thema gerade in den Hochhäusern Staakens: Armut. Vor etwa acht Jahren verzeichnete das Jobcenter Spandau einen Zuzug von jährlich rund 1000 Leuten in den Bezirk. Viele zogen in die - damals noch günstigen - Wohnungen an der Heerstraße. Aktuell sind es immer noch 300 bis 400 Zuzügler jährlich: Hartz-IV-Empfänger, Aufstocker.
Viele von ihnen gehen donnerstags in die Lebensmittelausgabe 'Laib & Seele' im evangelischen Gemeindezentrum der Heerstraße Nord. Das Zentrum liegt mitten im Hochhausgebiet. Der Staakener Pensionär Gerhard Lötzsch leitet die Ausgabestelle seit zwölf Jahren. Er kennt sein Publikum: "Viele Ältere, viele alleinstehende Frauen mit Kindern, aber auch Familien. Wir merken hier, dass Frauen mit Kindern quasi an den Rand gedrängt werden, weil Ehen auseinander gegangen sind und sie sich die Wohnungen in der Innenstadt nicht mehr leisten können."
CDU und SPD liegen in Staaken gleichauf
Etwa 500 Leute versorgen Gerhard Lötzsch und sein Team hier, Woche für Woche. Was der Ehrenamtler dabei in den vergangenen zwölf Jahren gesehen hat, hat seine politische Meinung beeinflusst: Obwohl er selbst nicht hilfebedürftig ist, steht 'soziale Gerechtigkeit' für Gerhard Lötzsch ganz oben an: "Natürlich! Ist ein ganz großes Thema. Und wenn da nicht irgendwas passiert, dann knallt diese Gesellschaft irgendwann auseinander. Eine Mittelschicht, die immer mehr verloren geht – das sehe ich so über die letzte 20, 30 Jahre. Wobei es genügend Leute gibt, die immer reicher und reicher werden – und wenn man sich dann anguckt, was die an Steuern zahlen, und was der Normalbürger an Steuern zahlt … da liegen, denke ich, die Probleme!"
Wer diese Probleme - Armut, Wohnen, Integration - politisch lösen könnte? Da gehen die Meinungen in Staaken weit auseinander. Bei der Abgeordnetenhauswahl im September holten CDU und SPD hier beide jeweils stattliche 30 %. Drittstärkste Kraft wurde mit 17 % die AfD. Ein klares Zeichen für Unzufriedenheit - die Probleme im Hochhausviertel sind ja auch mit Händen zu greifen. Aber wer denkt, das würde im beschaulichen Teil Staakens ganz anders aussehen, der täuscht sich.
Auch der pensionierte Feuerwehrmann Hans-Joachim an der schönen alten Dorfkirche wünscht sich, dass die Politik mehr für die Bevölkerung tut - für Rentner wie ihn, aber auch für alle anderen. Zum Beispiel mit einem bedingungslosen Grundeinkommen: "Wo jetzt im Gespräch war, so 1050 Euro als Limit, das man als Existenzminimum hat - das gefällt mir eigentlich ganz gut", sagt er. "Wenn die Leute vielleicht mal nicht ihr Leben lang gearbeitet haben, das muss ja nicht selbstverschuldet sein. Ist ja auch möglich, dass sie nach 30 Jahren rausgeflogen sind und nie wieder was gefunden haben."
Also: soziale Gerechtigkeit? "Genau! Auf alle Fälle!"